Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
18 19 20 21 22 23 24
25 26 27 28 29 30 1

12.582 Beiträge zu
3.811 Filmen im Forum

Foto: © J.-P. Deridder/courtesy Photographie Sammlung/SK Stiftung Kultur
Jean-Paul Deridder, aus der Reihe: Stadt der Kinder, Berlin 07/2000, 17,7 x 26,3 cm

Abenteuer in Schwarz-Weiß

26. Oktober 2011

Jean-Paul Deridder in der SK Stiftung Kultur – Kunst in Köln 11/11

Auf diese Ausstellung muss man mit Nachdruck aufmerksam machen. Jean-Paul Deridders Schau in der Photographischen Sammlung zeichnet sich durch Bescheidenheit, eine wie selbstverständliche Zurückhaltung aus. Im seitlichen Raum, der über die Passage zu betreten ist, sind seine fotografischen Bilder in Gruppen angeordnet: als ausgesprochen kleine Hoch- und Querformate, immer in s/w und im Blick auf ein unwirtliches Gelände, welches von wildem Baumbestand und Hauswänden mit Graffiti umfangen ist. Dazwischen sind Holzbauten in unterschiedlich provisorischen oder abgeschlossenen Zuständen und in der Abfolge wie eine Siedlung zu sehen. Das Nüchterne der fotografischen Aufnahmen ist umso bemerkenswerter, als sie eine Art Abenteuerspielplatz zeigen: ein Areal zum Selbstgestalten durch Kinder und Jugendliche, die hier bauen und zimmern und die Regeln ihrer architekturalen Konstruktionen bestimmen.

Der belgische Fotograf Jean-Paul Deridder hat diesen Ort, der sich in Berlin-Mitte befindet, zwischen 1998 und 2010 aufgenommen, vor allem bis 2005, bevor die Holzbauten auf dem Gelände abgeräumt wurden. Deridders Fotografien funktionieren also als Archiv und als Gedächtnis der kreativen Zwischennutzung einer Baulücke im urbanen Raum. Und sie schildern das insgesamt Vorübergehende selbst als Vorübergehendes: Deridder hat die verschiedenen Stadien des Auf- und Umbauens, den permanenten Prozess der kreativen Veränderung durch die Kinder fixiert, hat dabei den Standort auf dem Areal gewechselt, die Bauten gar bestiegen und schräg hinab fotografiert, so dass das Gefühl entsteht, Augenzeuge mitten im Geschehen zu sein.

Zustandsbeschreibungen der Bauten
In der Photographischen Sammlung in Köln sind an der Wand unter den Aufnahmen der Monat und das Jahr geschrieben, nicht der Tag. Die Bilder sind Zustandsbeschreibungen der Bauten über längere Zeiträume. Dazu gehört, dass die Kinder nicht zu sehen sind. Aber Deridder hält ihre Spuren fest. Er legt die Anwendungen, die Begehbarkeit der Bauten frei und zeigt die Stellen, an denen die Konstruktionen ergänzt werden müssten. In einer Fotografie rückt ganz nebenbei eine Planke in das Zentrum, die an einer Holzwand lehnt. Oder eine Schubkarre ist vor einer fensterlosen Hütte abgestellt. Dahinter türmen sich die Holzkonstruktionen auf, wachsen kleinteilig in die Höhe. Mitunter erinnern sie an den baulichen Wildwuchs an den Peripherien von Metropolen und in Slums. Insgesamt lassen sich verschiedene Gebäudetypen ausmachen, die unterschiedliche Funktionen signalisieren. Da entstehen Unterschlüpfe und Türme, und schließlich, in der Summe der fotografischen Bilder, wird klar, dass wir hier einem bemerkenswerten urbanen und architektonischen Experiment beiwohnen. Zu sehen ist ein Biotop, das, nach unvorhersehbaren Regeln organisiert, alternative Bau- und Lebensformen vor Augen führt, so wie diese im aktuellen Architekturdiskurs zur Sprache kommen. Hier nun verstoßen sie jedoch gegen jede Praktikabilität. „Die ästhetische Logik der Erwachsenen steht der Gebrauchslogik der Bewohner und Nutzer der Stadt der Kinder entgegen“, schreibt Michael Hirsch im Buch zur „Stadt der Kinder“ (2008). Und der Aneignung des Geländes und der eigenen Konstruktionen durch die Kinder entspricht die Aneignung durch den Fotografen – und damit durch den Betrachter –, der das Gelände vorsichtig und systematisch erkundet und einen Weg durch dieses für sich entdeckt hat.

Vor allem in den späteren Aufnahmen dieser Serie lenkt Deridder noch den Blick auf die Baulücke selbst, die symptomatisch für eine Metropole wie Berlin ist, und für den globalisierten Impetus mit immer schneller wechselnden städtebaulichen Ordnungen und Häuserzeilen, deren rein ökonomisch motivierte Abrisse und Neubauten radikal und von heute auf morgen vonstattengehen. In Deridders Aufnahmen zur „Stadt der Kinder“ hingegen scheint die Zeit stillzustehen. Könnten diese Holzbauten nicht schon vor hundert Jahren entstanden sein? Jean-Paul Deridder, der 1963 geboren wurde und in Brüssel lebt, konstatiert Derartiges bemerkenswert sachlich mit einem genau fokussierenden Blick, der die Bauten noch wie Skulpturen, aber auch wie individuelle Wesen mit einem eigenen Mitteilungsbedürfnis abtastet. Es ist natürlich kein Zufall, dass zeitgleich dazu in der Photographischen Sammlung der SK Stiftung Kultur die ebenfalls schwarz-weißen Aufnahmen von Judith Joy Ross zu sehen sind: Ihr Motiv sind ausschließlich Menschen, in Werkgruppen gegliedert nach Berufs- und sozialen Gruppen und eingefangen als Einzelportraits im Gegenüber. Judith Joy Ross geht es um eine Bestandsaufnahme unserer Gesellschaft mit all ihren Subtexten. Mit einem anderen Sujet und einem etwas anderen Vorgehen, aber in der Intention und im Ton sehr verwandt, kennzeichnet dies nun auch die Fotografien von Jean-Paul Deridder.

„Jean-Paul Deridder: Stadt der Kinder“ I bis 27.11. in der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur im Mediapark I www.photographie-sk-kultur.de

THOMAS HIRSCH

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Konklave

Lesen Sie dazu auch:

Kurzfilmprogramm in der Nachbarschaft
„Kurzfilm im Veedel“ zeigt Filme zu aktuellen Themen in Köln – Festival 09/24

Tanz in Köln
Die 1960er Jahre im Tanzmuseum

Alle sind älter
Porträts über das Alter in der Photographischen Sammlung im Mediapark – kunst & gut 06/24

Ereignisreiche Orte
Simone Nieweg in der Photographischen Sammlung der SK Stiftung im Mediapark – kunst & gut 11/23

Sammlung ordnen
Porträt, Landschaft und Botanik in der Photographischen Sammlung – kunst & gut 06/22

Klare Verhältnisse
„Von Becher bis Blume“ in der Photographischen Sammlung in Köln – Kunst in NRW 05/21

Das Beste von heute
Kölner Tanz- und Theaterpreise 2018 – Bühne 12/18

Gespür für die Zeit
„Witterungen“ in der Photographischen Sammlung der SK Stiftung – kunst & gut 05/18

Fünfzig Jahre später
Photographische Sammlung: Daniel Kothenschulte erklärt „Il deserto rosso now“ – Kunst 09/17

Nackte Mütter, junge Bilder
Kurzfilmabend zu „Begegnungen von Jung und Alt“ im Filmforum – Foyer 01/17

Jingle Bells
Die Kölner Theaterpreise 2016 – Theaterleben 01/17

Detektiv der Straße
Hans Eijkelboom in der Photographischen Sammlung – kunst & gut 12/16

Kunst.

Hier erscheint die Aufforderung!