Ein Ort im Nirgendwo. Und doch irgendwie hier, an unserer B1. Wo einst ein Aromawerk seinen penetranten Duft verqualmte. Dort ist die Welt aus den Fugen. Dort, wo einst Menschen Arbeit, Zukunft, Ruhm erhofften, hat sich menschliche Wüste breit gemacht. Strukturwandel-Land weit von Strukturwandel entfernt. Hier spielt in der Kölner Orangerie„Der Freund krank“ von Nis-Momme Stockmann, karg in den öden Theatersaal gebaut von der freien Kölner Theaterformation Acting Accomplices. Was ist geschehen?
Ich kommt in die Stadt zurück. Ich war draußen, weit draußen, hat wohl sein Glück gemacht jenseits der Aromatherapie. Doch der Mensch Ich hat dafür auch sein Wesen gedrittelt, abgespaltet, kann so die Möglichkeiten von Reaktion und Konversation steuern, drei Persönlichkeiten und ein Zwergkaninchen. Das gab es schon auf Kirks Enterprise, jetzt auch beim Immobilienmakler-Ich, erdacht von Herrn Stockmann.
Viel gibt es auf dem Beton der Orangerie nicht zu sehen, ein paar Lattengerüste mit Cellophan bezogen, ein paar Requisiten, der Sound kommt live von der Empore (Julius Richter) und in der Ecke liegt eine menschengroße Plastik-Puppe. Das ist Mirko, der Freund vom Ich, krank an der Situation, komatös, hilflos. Seine Frau Nora hat er geschwängert, dann hat er sich ins Bett gelegt. Ein Pflegefall, aber auch Indiz und Auslöser für eine dramatische Nichthandlung, die die verkorkste Umwelt spiegelt. Der Mensch mit den drei Persönlichkeiten kommt in seine alte Heimat zurück, besucht den Freund und seine Liebe und irgendwie auch das Produkt seines Handelns. Regisseur Thomas Ulrich setzt ganz auf sein spielfreudiges Ensemble, das die absurde Geschichte in Dialogen erzählt und gleichzeitig gemeinsam kommuniziert, mal als Tagebuch, mal als Vision.Nis-Momme Stockmannhat damals in Frankfurt versucht, das Theater über seine Grenze zu hebeln.
In Köln findet das Stück eine mentale Erdung durch den bereits sanierungsbedürftigen Raum. Jean Paul Baek, Jonas Baek und Marius Bechen teilen sich das dreigeteilte Wesen und die Baschi-Mofagang. Für das menschliche Chaos braucht es nicht viel. Der Zustand vollständiger Unordnung wird heute nicht nur in den Gesellschaften, sondern häufig auch im Menschen eher beiläufig hergestellt. Und so agieren die drei zusammen, gegeneinander, aber immer zielgerichtet. Komisch nur, dass es nie nach etwas riecht. Anfangs noch unsicher im Umgang mit den Bewohnern, ändert sich das schnell, wenn sie sich in Noras Wohnung einnisten, die Situation von Mirko ignorieren und die alte Liebe wieder auffrischen. Weil sie ja eigentlich nur eine Person sind, können sie auch ihre Reaktionen abstimmen und Nora (Lisa Bihl, zwischen Hartz IV und gekilltem Zwergkaninchen) langsam wieder für sich vereinnahmen. Und das Trio rockt den Saal vorzüglich.
Doch die Handlung versandet im bösen Nichts. Oder gibt es das etwa auch nicht? Nora durchschaut den Immobilienmakler, wie die Bewohner der Stadt auch. Skurril geht alles zugrunde. Nora stürzt sich zu Tode, Mirko wird noch schnell heimlich, aber lebendig begraben. Die Egos lösen sich im Phantastischen auf. Zitat: Es gibt keine Fakten, es gibt nur Interpretationen (Nietzsche): Oder war alles doch nur der Wahn eines Tumors?
„Der Freund krank“ | R: Thomas Ulrich| 25.11.-28.11. 20 Uhr | Orangerie, Köln | 0221 952 27 08
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Die Hoffnung muss hart erkämpft werden“
Regisseur Sefa Küskü über „In Liebe“ am Orangerie Theater – Premiere 11/24
Keine Macht den Drogen
„35 Tonnen“ am Orangerie Theater – Prolog 10/24
„Das Ganze ist ein großes Experiment“
Regisseurin Friederike Blum über „24 Hebel für die Welt“ in Bonn und Köln – Premiere 10/24
Getanzter Privilegiencheck
Flies&Tales zeigen „Criminal Pleasure“ am Orangerie Theater – Prolog 09/24
Wege aus der Endzeitschleife
„Loop“ von Spiegelberg in der Orangerie – Theater am Rhein 04/24
Das Theater der Zukunft
„Loop“ am Orangerie Theater – Prolog 04/24
Musik als Familienkitt
„Haus/Doma/Familie“ am OT – Theater am Rhein 03/24
Falle der Manipulation
„Das politische Theater“ am OT – Theater am Rhein 02/24
„Wir wollten die Besucher:innen an einem Tisch versammeln“
Subbotnik zeigt „Haus / Doma / Familie“ am Orangerie Theater – Premiere 02/24
Radikaler Protest
„Ein Mensch ist keine Fackel“ in der Orangerie – Theater am Rhein 01/24
Was ist hinter der Tür?
„Die Wellen der Nacht …“ in der Orangerie – Theater am Rhein 12/23
Trauma und Identität
„Mein Vater war König David“ in Köln – Theater am Rhein 10/23
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Bis der Himmel fällt
Franz Kafkas „Der Bau“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 09/24
Feder statt Abrissbirne
„Fem:me“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 07/24
Der Untergang
„Liquid“ von Wehr51 – Theater am Rhein 07/24
Gefährlicher Nonsens
Kabarettist Uli Masuth mit „Lügen und andere Wahrheiten“ in Köln – Theater am Rhein 07/24
Den Schmerz besiegen
„Treibgut des Erinnerns“ in Bonn – Theater am Rhein 07/24
Alles über Füchse
„Foxx“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 07/24
Vergessene Frauen
„Heureka!“ am Casamax Theater – Theater am Rhein 06/24
Freiheitskampf
„Edelweißpiraten“ in der TF – Theater am Rhein 06/24
Menschliche Eitelkeit
„Ein Sommernachtstraum“ in Köln – Theater am Rhein 06/24
Die Grenzen der Freiheit
„Wuthering Heights“ am Theater im Bauturm – Theater am Rhein 06/24
Erschreckend heiter
„Hexe – Heldin – Herrenwitz“ am TiB – Theater am Rhein 05/24
Verspätete Liebe
„Die Legende von Paul und Paula“ in Bonn – Theater am Rhein 05/24