Das Unglück beginnt damit, dass ein Erwachsener ein Kind missbraucht. Das ist die Erbsünde, die von Generation zu Generation gerächt werden muss. Dieses Schicksal des Ödipus, das wie eine Folie direkt unter unserer Haut liegt, bleibt immer präsent und setzt sich fort, solange es Menschen gibt. Wir glauben die Geschichte des Ödipus zu kennen, aber mit der Version von Wim Vandekeybus und Autor Jan Decorte gewinnt sie eine neue, erstaunliche Wendung. Mit König Laios beginnt sie, der ein Kind schändet und sein Volk schlecht behandelt. Dass ihm das Orakel seinen Tod von der Hand seines Sohnes voraussagt, überrascht dann niemanden mehr.
Der Belgier Wim Vandekeybus, dessen Koproduktionen mit dem Schauspielhaus den Kölnern großartige Theater- und Tanzereignisse beschert, entwickelt in seiner neuen Inszenierung „Ödipus/Bet Noir“ eine eigene Logik und Erzählsprache, in die er sein Publikum gleich mit den ersten Bildern hineinzieht. Die Welt stellt sich hier wie ein Schlachtfeld dar, das Ähnlichkeiten mit Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“ aufweist. Wiederkehrend taucht in der zweistündigen Choreographie das Bild eines Feldes verkrüppelter, erstarrter oder verrenkter Leiber auf.
Vandekeybus beglückt sein Publikum erneut mit Bewegungen, Gesten und Bildern, die man so noch nie sehen konnte und nach dieser markerschütternden kathartischen Theaterübung auch nicht mehr vergessen wird. Ein gigantischer Mond aus Lumpen hängt drohend über der Bühne, die Kinder klettern schutzsuchend, wie geschundene Internatsschüler, in diesen Mond. Oder werden sie von ihm gefressen? Das ist nicht zu entscheiden, überall findet sich der lieblose, verachtende Umgang mit menschlichen Körpern. Menschen, die benutzt und weggeschmissen werden. Vandekeybus liefert uns ein Bild unserer Zeit und erzählt doch in raffiniert choreographierten Rückblenden jene Geschichte vom großspurigen Ödipus. Den spielt der Belgier selbst mit der unreifen Lässigkeit eines Ignoranten, der von einer Vergangenheit eingeholt wird, von der er nichts weiß, aber deren Schuld er abzutragen hat.
Eine Geschichte, deren Abscheulichkeit gerade deshalb so deutlich wird, weil Vandekeybus zeigt, wie gegenwärtig sie ist und warum sie das Fundament unserer Kultur darstellt. Ein Gründungsmythos, der zusammenschweißt, gerade weil er die Schande zum Thema hat. Das prügelt der Belgier seinem Publikum mit einer infernalischen Verwendung lauter Rockmusik ein, die an die Schmerzgrenze geht. Aber es muss halt wehtun, wenn es ans Eingemachte, also an die Wahrheit, geht. Das Ergebnis ist ein großartiges Kunstwerk mit energiegeladenen, bildreichen Tanzsequenzen. Schauspieler und Tänzer agieren stolz und virtuos zugleich. Selten hat ein Choreograph Tod und Verderben so sinnlich, humorvoll und doch mit solch wuchtigem Ernst dargestellt. Mit Kindern beginnt die Tragödie, mit einem Baby, das im Licht eines schwankenden Riesenscheinwerfers mitten auf der Bühne liegt, endet das Inferno. Der Beifall konnte dann nur noch begeisternd ausfallen. Die Aufführungsdauer beträgt 120 Minuten.
Nächste Vorstellungen 28., 29.2. , 19.30 Uhr | www.schauspielkoeln.de | Tel. 0221 221 28400
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