Der reflexhafte Vorwurf, gegen den sich die jungen Aktivisten der Fridays for Future-Bewegung seit ihren Anfängen vor sechs Monaten regelmäßig zur Wehr setzen müssen, lautet, sie würden ja nur die Schule schwänzen wollen. Der 17-jährige Julius muss sich den Schuh jedenfalls nicht anziehen: Seine Schule hat an diesem Freitag nach Fronleichnam einen Brückentag eingesetzt. Trotzdem hat er sich mit einer Gruppe von Freunden auf den Weg nach Aachen gemacht, um an dem ersten internationalen Zentralstreik von Fridays for Future teilzunehmen. Im Regionalzug von Köln nach Aachen zerschneiden sie einen Pappkarton und verteilen die Rechtecke, bevor sie sich ihre Slogans überlegen und mit Edding auf die Pappschilder kritzeln.
Die unter dem Titel „AC 2106“ angekündigte Großdemo in Aachen stellt eine neue Aktionsform im Repertoire der Schulstreiker dar: Statt an ihren jeweiligen Heimatorten zu demonstrieren, sammeln sie sich in Aachen. Nicht nur aus dem Bundesgebiet, sondern aus insgesamt 17 Ländern reisen die Demonstrationsteilnehmer an, etwa aus Italien, Spanien, Dänemark, Polen und den benachbarten Benelux-Ländern. Auch einzelne Aktivisten aus Indien oder von den Philippinen, die für einen Klimakongress in Bonn in Deutschland sind, sind unter den Teilnehmern zu finden. Bereits am Vorabend ist ein Sonderzug in Aachen angekommen, ein Parkhaus wurde zur temporären Unterkunft umfunktioniert.
Am Freitag selbst ziehen gleich mehrere Demonstrationszüge in Form eines Sternmarsches durch die Aachener Innenstadt: Gestartet wird etwa am Hauptbahnhof, an der RWTH Aachen, …da und dort… – aus dem benachbarten Vaals in den Niederlanden stößt außerdem eine Fahrraddemo noch dazu. Alle Züge sammeln sich schließlich am Kundgebungsort am Tivoli-Stadion. Aufgrund der Verteilung auf das ganze Stadtgebiet ist es für die jungen Veranstalter zunächst schwierig, die Zahl der Demonstranten abzuschätzen. Am Ende des Tages jedoch pendeln sich die offiziellen Zahlen auf einen Wert von 40.000 Teilnehmern ein.
„Damit ist es die bisher größte Klimaschutz-Demonstration innerhalb Deutschlands“, stellt der 19-jährige Luca Samlidis fest, FFF-Aktivist aus Bonn. Er und ein paar andere Mitglieder des Organisations-Teams haben recht spontan eine Pressekonferenz auf die Beine gestellt. „Wir sind unheimlich stolz, das erreicht zu haben und sind vor allem der Aachener Ortsgruppe für die gute Vorbereitung dankbar.“ Dass so viele Menschen ihrem Aufruf gefolgt seien, liege mit im Konzept, vor allem aber in der Dringlichkeit der Klimakrise begründet, meint Samlidis.
Die scheint tatsächlich bei den meisten Teilnehmern angekommen zu sein: Die Demonstration ist laut, die Stimmung leidenschaftlich. Immer wieder branden die bereits einschlägigen Sprechchöre auf – viele der Plakate nehmen den Energiekonzern RWE aufs Korn, der die Tagebaue des nahen rheinischen Braunkohlereviers betreibt. Aachen sei durchaus nicht zufällig für die internationale Demo ausgewählt worden, so die 15-jährige Aachener Aktivistin Nele Hochkirchen. „Mit den Tagebauen und den vier Braunkohlekraftwerken von RWE in der Region ist das Revier die größte CO2-Quelle Europas“, sagt sie. „Hinzu kommt noch die Nähe zum Atomkraftwerk Tihange – hier kommt einfach alles Schlechte zusammen.“
Die Masse der Teilnehmer ist immer noch vornehmlich jung, doch es mischen sich auch ältere Semester bis hin zum Rentenalter unter die Demonstranten – die „Parents for Future“ sind ebenso vertreten wie die „Scientists for Future“. „Genau das ist ja auch unser Ziel“, sagt Hochkirchen. „Wir wollen keine Jugendbewegung bleiben, es ist total wichtig, dass eine gesamtgesellschaftliche Bewegung daraus wird.“ Die sichtbaren Ansätze dazu lassen sie jedenfalls hoffen.
Neben ihren weitergesteckten Zielen, wie einem Kohleausstieg bis 2030 statt 2038, fordern die FFF-Aktivisten Maßnahmen, die schon dieses Jahr greifen sollen: Ein Viertel aller Kohlekraftwerke soll abgeschaltet, die Subventionen für fossile Energieträger beendet und eine Steuer auf Treibhausgas-Emissionen erhoben werden. „Wir fordern nichts Neues, nur die Einhaltung des 1,5 Grad-Zieles, wie es auf der Pariser Konferenz beschlossen wurde“, betont Samlidis. „All das ist wissenschaftlich fundiert.“
Auf der Bühne am Tivoli reden derweil neben den FFF-Aktivisten auch Vertreter von anderen Initiativen wie „Ende Gelände“ oder „Alle Dörfer bleiben“. Zwischendurch sorgen Bands wie Culcha Candela und Moop Mama für Auflockerung – trotz aller Ernsthaftigkeit bleibt noch Raum für ein bisschen Spaß. Ohnehin hat das Protestwochenende gerade erst angefangen – viele der Demo-Teilnehmer werden am nächsten Tag auch an der Demonstration am Tagebau Garzweiler teilnehmen, zu der „Ende Gelände“ aufgerufen hat. Dabei wird es einem Teil der Aktivisten wieder gelingen, den Tagebau bis zum Sonntag zu besetzen. Samlidis und Hochkirchen erklären sich solidarisch mit den Aktivisten von „Ende Gelände“, auch wenn sie klarstellen, dass ihre Demonstration völlig unabhängig davon organisiert wurde. „Unterschiedliche Aktionsformen – das gleiche Ziel“, so Samlidis.
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