Dichter Nebel steigt auf, füllt das Bochumer Schauspielhaus und macht es fast unmöglich zu sehen, was gerade auf der Bühne passiert. Dort steigen vier Tote aus ihren Särgen, frisch vitalisiert und bereit, eine wortgewaltige Schlacht zu schlagen.
Literaturbegeisterte moderner und alter Sprachen sind im restlos gefüllten Schauspielhaus zusammenkommen. Beim ersten „Dead or Alive Slam“ auf einer großen Theaterbühne in NRW tritt die klassische Lyrik der toten Dichter gegen die moderne Lyrik lebender Dichter zum Wettstreit an. Das „Dead“-Team besteht aus Mitgliedern des Schauspielhaus-Ensembles (Friederike Becht, Ronny Miersch, Roland Riebeling und Anke Zillich), die vier Dichtern der Weltliteratur neues Leben einhauchen. Auf der Gegenseite stehen mit Anke Fuchs, Julia Heun, Moritz Kienemann und Andy Strauß vier Poetry Slammer, die den Drang haben, die Werke der verstaubten Dichtergrößen posthum erblassen zu lassen. Es tritt jeweils ein Toter gegen einen lebenden Dichter an. Jeder Dichter wird direkt nach seinem Vortrag bewertet. Sebastian 23, sprachliches Multitalent und lyrische Allzweckwaffe, der als Moderator souverän durch den Abend führt, verteilt dafür an sieben ausgewählte Leute aus dem Publikum Wertungstafeln mit Zahlen von eins bis zehn. Um Jurymitglied zu werden, reicht es dann auch, wenn jemand "extra aus Münster" kommt oder "gerade Nasenbluten" hatte. Beide Poeten-Teams sind gerüstet und textlich präpariert. Der Streit der Poetengenerationen kann beginnen.
Wenn Goethe zum Schluck ansetzt…
Es folgen wilde Wettstreite und heftige Reaktionen im Publikum um die Wertungen der Jury, die fast so schnell wieder vergessen sind, wie der ellenlange Adelsname der Baroness, die über die besten Todesarten für blonde, brünette und rothaarige Frauen sinniert. Im Gegensatz dazu dreht der gute alte Goethe voll auf. Frisch aus seinen besten Sturm und Drang-Jahren gerissen, trägt er sein wohl bekanntestes Gedicht „Willkommen und Abschied“ vor – wenn er gerade mal nicht die Schnapsflasche am Mund hat. Doch mit Goethes großer Show als Genie und Säufer kann Moritz Kienemann locker mithalten. Einmal in Fahrt, läuft die Stimme mit zunehmender Lautstärke immer häufiger aus dem Ruder, begleitet von wilder Gestikulation und einem actiongeladenen Text, der vermutlich den Aufdruck „Explicit Lyrics“ erhalten würde. Allgemein fallen nicht selten Flüche und verbale Eskalationen, die das durchschnittlich ca. 25-jährige Poetry Slam-Publikum aber locker wegsteckt.
…und Schiller feuertrunken ins Schwarze trifft.
Die jedoch größten Kontrahenten des Abends sind Friedrich Schiller und Andy Strauß, die mit herausragenden Bewertungen gewürdigt werden. Andy Strauß legt vor: Er misstraut seiner Freundin, die ihn hinterlistig töten will, doch er überlistet sie und stößt sie von einer Klippe. Wer nach dieser Beschreibung denkt, dass sei Stoff für eine kurzweilige Soap, liegt falsch. Die Anwesenden werden das festsitzende Bild des Genitalpropellers nur schwer aus ihren Köpfen bekommen. Umso verwunderlicher, dass Friedrich Schiller trotz der vorherigen Ladung fantastisch sinnfreier Gedankenkunst mit seinem Auftritt hohe Zustimmung findet. Mit der 1797 entstandenen Ballade „Der Taucher“, die 27 Strophen mit stattlichen 162 Versen umfasst, überwältigt er und lässt mit diesem hochklassigen Vortrag die „Weimarer Klasse“ aufblitzen.
Trotzdem scheitern die Weltliteraten knapp. Aber nach dieser vor Leben strotzenden Darbietung können sie es sich erhobenen Hauptes in ihren kalten Särgen gemütlich machen.
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