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Psychotische Volksmusik

26. Juni 2014

Neue Musik zwischen Rückbesinnung und Revision – Kompakt Disk 07/14

Zum Finale der WM erscheint Sébastien Telliers CD „L'Aventura“, die mit einer Hommage an die brasilianische Bossa-Psychedelic der frühen 70er Jahre eröffnet und dann den frankophilen Pop der späten 70er und 80er Jahre in Erinnerung ruft. Dabei kennt der ESC-Teilnehmer zwischen experimentierfreudigem Blick auf Mainstream und „La Boum“-Schmalz keine Schamgrenze (Record Makers). Dass das Solo-Akustik-Projekt des Melvins-Gitarristen und -Sängers Buzz Osborne nicht bei Liedermacherei landet, war absehbar. Und dennoch ist man dann froh, auch akustisch Osbornes wuchtige Kanten wiederzuerkennen. „This Machine Kills Artists“ quengelt und drängelt genauso wie der über drei Jahrzehnte erprobte gepresste Hardcore der Melvins. Insofern ist das Album vielleicht eher eine Variation als eine Innovation, aber Letzteres haben die Melvins in den 80er und 90er Jahren zur Genüge vollbracht (Ipecac).

Das Fire! Orchestra erinnert an opulente Jazz-Kollektive der frühen 70er Jahre wie Keith Tippets „Centipede“, Carla Bleys „Escalator Over the Hill“ oder Charlie Hadens „Liberation Music Orchestra“. Das 28-köpfige norwegische Kollektiv um Saxophonist Mats Gustafsson wütet auf vier langen Stücken zwischen Powerrock, Free Jazz und Noise, dass die Splitter fliegen. „Enter“ heißt das Album, und… ja... es geht ab (rune grammofon). Das Folgende ist nicht nur Volksmusik im Sinne der vielen Menschen, die beteiligt sind, sondern auch, weil es musikalisch auf ältere Traditionen als Jazz und Rock zurückgreift: Immerhin auch 15 Musiker aus fünf Bands, allesamt aus unterschiedlichen, eigentlich verfeindeten Ethnien aus der Kasai-Region des Kongos, bilden die Kasai-Allstars. Sie spielen E-Gitarren, verstärkte Daumenklaviere, Xylophon und diverse Perkussion-Instrumente. Das alles aber auf eine aggressiv-rohe Art, die ihre langen, repetitiven und tranceartigen Stücke permanent nach vorne treiben. Über 100 Minuten auf zwei CDs: „Beware the Fetish“ erscheint als fünftes Album der Congotronics-Reihe, in der zuvor bereits Platten des vergleichbar rauen Kollektivs Konono No.1 erschienen sind (Crammed Discs).

Das schwedische Duo The Knife veröffentlicht mit dem digital-only Release „Shake Up Versions“ acht Stücke aus seiner Diskographie in neuen Versionen, die dem aktuellen, nervösen Sound der Band entsprechen. Wild perkussiv und psychotisch geben sich die neu arrangierten Elektronikstücke, darunter die großartigen Tracks „Pass This On“ und „Birds“ (Pias). Lange nicht mehr einen so schönen Promotext gelesen. Alle Bonmots sind schon da – warum also mühsam neue erfinden? Verknappt ist da über „Rückverzauberung 9“, die im Auftrag des Festivals „Doofe Musik, Lieder zum Träumen, Betäuben und Vergessen“ erschienene CD von Wolfgang Voigt zu lesen: „Narkotische Bläserloops … taumeln Richtung Unendlichkeit … egerländern auf Valium. Programmatische Langeweile … berauschter Glückseeligkeit … (pop)ambienter Entrücktheit“. So ist es, und es ist gut so: Schwindsüchtiger Blaskapellen-Ambient (Profan). Nochmal Ambient, aber analog: Dylan Carlson von Earth hat den Soundtrack zu Thomas Arslans Western „Gold“ mit Nina Hoss beigesteuert und liegt recht nah an Neil Youngs Tonspur zu Jim Jarmuschs „Dead Man“: Langgezogene, schwer verzerrte staubige Gitarrenriffs und Drones prägen die atmosphärischen Stücke (self released).

CHRISTIAN MEYER

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