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Edgar Reitz an der KHM

Zeit und Kino

11. März 2015

Edgar Reitz spricht in der KHM über „Heimat“ und die Filmkunst – Foyer 03/15

Montag, 9. März: Eigentlich hatten Edgar Reitz und Moderatorin Barbara Teufel zunächst den Kurzfilm „Geschwindigkeit“ von 1963 zeigen wollen, um in Ergänzung zur Vorführung von „Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht“ (das Epos wurde belohnt mit dem Preis der deutschen Filmkritik) am vorherigen Freitag einen besseren Eindruck vom Spektrum der Arbeiten des Filmemachers zu vermitteln; die digitale Kopie, die Reitz mitbrachte, wurde jedoch von den KHM-Geräten stur abgelehnt. Daher wohl auch der verspätete Beginn um 19.15 Uhr und die kurze Ratlosigkeit, mit der Reitz und Teufel auf dem Podium Platz nahmen, nachdem Petra Schmitz von der Dokumentarfilminitiative (dfi) in einer Einführungsrede Reitz als einen Regisseur vorstellte, der sich immer auch als ein Lehrender verstanden habe und mit Hochschulen wie der KHM, deren Gründungsbeirat er angehörte, engen Kontakt pflege. Anlass der Veranstaltung war das gerade pünktliche Erscheinen des Textbandes „Zeitkino“, einer von Medienwissenschaftler Christian Schulte besorgten Auswahl von Essays, Gesprächen und Fragmenten aus Reitz‘ Feder, die sich mit Kino, Filmemachen und Filmkunst beschäftigen. Die Texte entstanden aus ganz unterschiedlichen Gründen zwischen 1962 und 2014; er hielt das Buch am Abend selbst das erste Mal in der Hand.


In der Aula der Kunsthochschule für Medien

Die Anfänge des Neuen Deutschen Films

Wir sahen an dem gut besuchten Abend einen Edgar Reitz, dem man seine 82 Jahre nicht anmerkte und den der Gedanke an den nicht abspielbaren Kurzfilm von 1963 gleich auf den Ausgangspunkt seiner Überlegungen brachte, dass nämlich die Filmkunst sehr jung (und entwicklungsfähig!) sei, wenn er sich etwa die Hälfte ihrer Zeit selbst an ihr beteiligt habe. Auf die Vorgeschichte seiner Karriere eingehend, erinnerte er sich nicht nur daran, dass Köln die erste Großstadt gewesen sei, die er auf einer Klassenfahrt in Trümmern gesehen habe, vor allem beschrieb er für die Filmkunst schwierige Zeiten. „Als ich Mitte der 1950er Jahre auf die Universität in München kam, war der allgemeine Konsens, Film könne keine Kunst sein. Aus den verschiedensten Gründen, zum Beispiel weil es eine mechanische Reproduktion sei. (…) Es gibt nur sehr wenige originäre Filmemacher. Fast alle, die sich mit Film beschäftigen, kommen irgendwo aus den anderen Künsten.“ Als Beispiele nannte er Literatur, Bildende Künste und Musik. „Es gibt immer diese Wege, wo man etwas Nicht-Filmisches mit Hilfe des Films glaubt verwirklichen zu müssen. Ich habe mich selbst immer als einen originären Filmemacher gesehen.“ Politisch galt nach dem Krieg: „Man misstraut den großen Worten.“

Die jungen Filmemacher wollten sich von der starren Tradition losmachen. Die Studios hatten die industrielle Produktionsweise der Kriegs- und Vorkriegszeit wieder aufgegriffen, die mit den zur Filmproduktion verbundenen schweren Gerätschaften zusammenhingen. „Deswegen war in den 1960er Jahren für uns das Hauptanliegen, dieses riesige Bollwerk zu knacken.“ Man habe leichte Geräte gebraucht, die es ermöglichten, im Freien zu drehen und sich von der Industrie zu lösen, was „auch als Gesellschaftskritik gemeint“ war. Das internationale Experimentalfilmfestival im Belgischen Knokke („Exprmntl 4“) sei für ihn der Punkt gewesen, an dem er anhand der zusammengebastelten Kameras eine Zukunft absehen konnte, „in der jeder über dieses Ausdrucksmittel verfügen kann, sobald er seine Gedanken entsprechend ordnen kann.“


Barbara Teufel von der KHM mit Edgar Reitz

Folglich überraschten ihn die heutigen Möglichkeiten nicht, denn mit technischen Veränderungen sei es so, dass sie Bedürfnisse erfüllen. „Man sieht überall hinter den Entwicklungen ihnen lange vorausgehend die Träume von Leuten, die etwas vor sich sehen und es verwirklichen wollen, und irgendwie wächst die Technik ganz langsam hinterher.“ Allerdings habe er mit der Verwendung einer Digitalkamera (für „Die andere Heimat“) so lange gewartet, bis seine Qualitätsansprüche erfüllt gewesen seien. Er habe aber keinen „Digitalfetisch“: „Es werden viele Dinge auch überbewertet.“

Filmischer Raum

Ein Auszug aus einem Brief an den Komponisten Helmut Lachenmann brachte das Gespräch auf den „filmischen“ oder „erzählerischen Raum“, der neben dem, was gezeigt werde, das mit umfasse, was nicht gezeigt werde (das Off) und auch gar nicht existiere, wie etwa ein Dekor, das am Bildrand aufhört und doch vom Zuschauer weitergedacht werde. Auch das Milieu oder die Stadt im Film, die Filmautoren „formulieren“ und mit vermitteln müssten. „Das Off ist eigentlich das Thema des Films.“ Als Beispiel für ein zeitliches Off nannte er eine Vorgeschichte einer Szene, die den Sinn des Gezeigten mit herstelle und sich „in der Fantasie des Zuschauers bildet. (…) Für mich ist ein Film immer dann ein reicher, schöner und auch künstlerisch überzeugender Film, wenn er in seinem Off reich erscheint, wenn das, was er nicht zeigt, in seinen unzähligen Details durchleuchtet ist in den Köpfen derer, die es gemacht haben. Denn das leuchtet in alle Szenen hinein.“ Bei Romanen sei es ganz ähnlich, aber beim Film laute die Frage: „Muss man alles sehen? Muss alles Bild sein?“ Zwischen dem Bild und dem Off bestehe eine „bestimmte Spannung. Diese Spannung ist eigentlich die Aufgabe, aus dieser Spannung heraus entsteht unser Bild.“

Episches Erzählen

Über „Heimat“ (über Jahre digital restauriert und demnächst auf Kinotour) sagte er, er habe sich auf keinen Fall einer klassischen Dramaturgie unterwerfen wollen. „Das, was wir Dramaturgie nennen, ist ja ein Erzählen aufs Ende hin. (…) Der amerikanische Film lebt seit Jahrzehnten immer von der Frage: Wie geht’s aus?“ Solche Strategien und „außerfilmische Forderungen“ wie das Happy End hätten ihn aber immer nur von seinen Interessen weggeführt. „Bei den Geschichten, die wir damals zu erzählen anfingen, gab’s kein Ende. Das ist so wie beim Leben selbst. Und ohne zu ahnen, auf was wir uns einlassen, haben wir dann eine unendliche Geschichte bekommen, eine Geschichte, die nie endet und die auch gar nicht versucht, ein Ende zu finden.“ Episches Erzählen heiße, „sich den Lebenswegen anvertrauen und sich damit konfrontieren, dass es nirgendwo ein Ende gibt.“ Sehenswert und spannend werde das statt durch den Aufbau eines Konfliktes, indem der Zuschauer das eigene Leben mit dem Gezeigten vermische „und allmählich spürt, dass über der Geschichte, die erzählt wird, so wie über der eigenen Geschichte und den eigenen Erinnerungen, die dabei wach werden, etwas anderes noch die Hand darüber hält.“ Ein Vorläufer sei im griechischen Drama die Macht der Götter gewesen. „Es gibt Kräfte in der Geschichte, die stärker sind als unsere eigenen, individuellen.“ Nicht bestimmen könne man etwa darüber, wann und wo man geboren werde.


Beim Signieren

Damit waren wir beim auch im Buchtitel enthaltenen Thema Zeit. „Wir können die Zeit nicht wählen. Für mich ist also die Zeit das, was früher die Götter waren, das Schicksalhafte.“ Die Tatsache, dass alles vergeht, Gegenstände und Erlebnisse, sei „ein unglaublich starker Antrieb, sich Geschichten erzählen zu lassen oder Geschichten zu erzählen. Denn die Geschichten trösten uns darüber hinweg. In dem Moment, wo eine Geschichte erzählt wird, betritt sie einen Raum, der unvergänglich ist.“ Zu den erwähnten „Erzählräumen“ habe der Tod nicht wirklich Zutritt, denn er verliere in erzählter Form seinen Schrecken. „Das epische Erzählen ist eigentlich ein Erzählen von Leben und Tod. Da entsteht zu unserem großen Erstaunen eine Spannung, die das Publikum bei der Stange hält.“ Die „Heimat“-Zyklen hätten somit eine immense Länge erreichen können, „und keiner läuft weg“.

Aus dem gleichen Grund seien Serien heute wieder so erfolgreich, in denen das Prinzip des Epischen stecke und die das Bedürfnis nach einer Aufhebung der Flüchtigkeit glücklicher Momente befriedigen würden. „Im Erzählen ist dem Leben mehr Chance gegeben als in der Wirklichkeit.“

Kein ‚Gut und Böse‘

Von Barbara Teufel auf seine Figuren angesprochen, führte Reitz aus, dass die Grundlage die Beobachtung sei und es als Ausgangspunkte immer reale Vorbilder gebe. Er glaube im Rückblick, dass an den alten „Heimat“-Filmen aus heutiger Sicht das Beste die Figuren gewesen seien. Er glaube hingegen nicht an eine „Aufladung von Figuren mit Konfliktpotential“, die vom Realismus wegführe. „Im Leben gibt es nicht Gut und Böse.“ Eine Beurteilung solle man besser unterlassen, wenn man auf lebendige Figuren abziele.


Reitz plant derzeit neue Projekte

Deutsche Bildungsdefizite

Abschließend klagte Reitz über einen gewissen Analphabetismus in Sachen Filmkunst, der in Deutschland im Gegensatz zu Frankreich vorherrsche; es gäbe da besonders hinsichtlich des Formellen einen klaren „Bildungsauftrag“. Die Filmkunst habe es schwer, weil man heute von bewegten Bildern „erdrückt“ werde, zumal die filmischen Mittel für alles verwendbar seien. Außerdem wünsche er sich Kinos, die von der Welt abgegrenzt seien und wie ein „heiliger Ort“ wären. Das öffentliche Filmerlebnis sei eine „unersetzbare Situation“. Die Anwesenheit der anderen Zuschauer habe einen disziplinierenden Effekt, während das Zuhause eher ein Ort sei, wo bewusst oder unbewusst Konsum stattfinde und Konzentration fast unmöglich sei. Den Traum, ein eigenes Kino zu bauen, habe er sich jedoch nie erfüllen können. Aber nicht nur von einem Kino träumt er, wie er auf Nachfrage gestand: Derzeit beschäftigt ihn die Beschaffung der finanziellen Mittel für ein neues Filmprojekt. „Das gibt es leider nicht, dass man sagen kann, ich habe so gute Filme gemacht, ich kriege leicht mein Geld für den nächsten.“

Und sein Rat an die Studenten? Nun sprach er etwas zögerlich und tastend: „Es gibt ja eine Frage, die uns das ganze Leben begleiten muss, und das ist die Frage: Warum machen wir Filme? Darauf muss jeder selbst eine Antwort finden. Mein Ratschlag ist, nie aufzuhören, sich diese Frage zu stellen. Zu jedem Lebensalter wird man eine andere Antwort haben. Wenn man gerade angefangen hat, zu studieren, hat man vielleicht… Träume, die man hinterfragen sollte. Bei Träumen ist ja immer wichtig zu wissen, wo man sie her hat. Und das, meine ich, könnte ein Ansatz sein.“

Edgar Reitz: „Zeitkino“ | Hrsg. Christian Schulte | Vorwerk 8 | 288 S. | 24 €

Text/Fotos: Jan Schliecker

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