choices: Herr Krauthäuser, muss man als Kölner Karneval feiern?
Jan Ü. Krauthäuser: Man muss nicht, aber man sollte. Wo sonst hat man die Chance, so ein altes, traditionelles, lebendiges Fest zu feiern, das auch noch innovative und interaktive Aspekte hat, und das jedem Raum bietet, sein eigenes Ding draus zu machen?
Was ist dabei das Besondere?
Die sehr familiäre Note. Überall, in allen Veedeln, in der Schule, im Sportverein wird gefeiert, individuell und in kleinen Einheiten. Im internationalen Vergleich ist der Kölner Karneval vergleichsweise wenig kommerzialisiert. Beim Nottingham Carnival hängt an jeder Laterne der Hinweis auf einen Sponsor. In Rio gibt es die eine große und alles beherrschende Parade.
Was hält denn der Brasilianer vom Kölner Karneval, so er ihn kennt?
Meine Frau Marcia ist Brasilianerin. Sie schätzt den Kölner Karneval außerordentlich, weil der Karneval hier noch traditioneller und volkstümlicher wirkt. Wir hatten vor einiger Zeit zwei mittlerweile recht berühmte brasilianische Musiker bei der Humba Party. Lenine und Suzano erinnerte die hiesige Vielfalt an den Karneval ihrer Kindheit in Rio und Recife.
Ist der Kölner Karneval authentisch?
So authentisch wie eine Kartoffel. Aber was ist schon authentisch? Beim hiesigen offiziellen Karneval hält das Festkomitee bestimmte Rituale für traditionell, obwohl sie erst in den Sechziger, Siebziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts eingeführt wurden. Zu den wirklichen karnevalistischen Wurzeln will man eher nicht zurück. Und auch nach vorne ist man nicht wirklich experimentierfreudig. Zugleich geht in den Nischen viel mehr „Authentisches“ ab als man offiziell wahrnimmt.
Der Humba e.V. ist ja auch zwischen den Sessionen aktiv.
Wir wollen zur besseren Wahrnehmung der hiesigen kulturellen Vielfalt beitragen, unsere Palette reicht von der hier geborenen Omi und ihrer Kultur bis zum eingewanderten Afrikaner. Die Idee funktioniert über das ganze Jahr, wie man etwa beim Edelweißpiratenfestival oder der Aktion „11.000 BauchtänzerInnen gegen Pro Köln“ feststellen konnte.
Steht Humba für Weltmusik?
Ja. Aber was heute unter diesem Label auf dem Musikmarkt läuft, ist uns viel zu eng. Wir klopfen die Tauglichkeit von Musik aus aller Welt für konkrete Anlässe ab, vom kölschen Krätzchen bis zu angolanischem Elektro-Punk. Dazu gehört der Spaß, immer wieder Grenzen zu überschreiten.
Und das funktioniert trotz unterschiedlicher Umwelten?
Schon. Auch wenn das Absingen Kölscher Schlager ein größeres Bindungspotential hat als der Versuch, die in Köln ansässigen 150 Kulturen miteinander ins Gespräch zu bringen. Dabei kommt man nicht so schnell auf einen gemeinsamen Nenner, auch wenn das Lob von Multikulti, Vielfalt und Diversity mittlerweile zum Mainstream gehört.
Widersprechen sich traditionelles Brauchtum und Diversity nicht?
Humba hat sehr viele Freunde aus Afrika, Asien oder Lateinamerika. Sie schätzen, dass ihre Kultur mit dem kölschen Brauchtum in Wechselwirkung treten kann. Ur-Deutsche wiederum finden es prima, als Exoten unter anderen Exoten zu feiern. Gerade im Karneval finden Diversity und Brauchtum zueinander. So verbindet sich die Vielfalt sozialer Gruppen und der Generationen. Im Karneval werden viele grenzüberschreitende Kontakte möglich...
Das mag für einzelne gelten. Aber die soziale Segregation in Köln ist größer als in anderen deutschen Großstädten. Sogar das Festkomitee denkt über besondere, zielgruppenorientierte Angebote nach.
Scheinbar altmodische Begriffe wie Brauchtum haben oft das größte Modernisierungspotential. Wenn ich vom progressiven Brauchtum spreche, meine ich z.B. die Erneuerung der regionalen Tradition mit Hilfe moderner, zugewanderter Kulturaspekte. Der „fremde“ Blick hilft auch, altmodischen Kram ganz neu zu entdecken. Aber man muss natürlich auch mal langweilige Sitzungen und andere Formate in Frage stellen.
Das tut das Festkomitee auch.
Beim Infragestellen ist es gut, aber bei tatsächlichen Erneuerungen? Man kann allerdings nicht nur von den Karnevalisten allein verlangen, dass sie den Karneval umgestalten. Man muss auch die hiesigen Kulturpotentaten auffordern, auf die Tatsache zu reagieren, dass der Karneval das größte identitätsstiftende Fest dieser Stadt ist.
Wer sind denn die hiesigen Kulturpotentaten?
Kulturpolitiker, Museumsdirektoren, „Kreativindustrielle“ und natürlich auch jeder Künstler. Der Karneval bietet unheimlich viel Experimentierraum. Beispiel Musik. Köln hat hier ein enormes Potential. Wenn sich das beim größten rheinischen Volksfest versteckt, weil Karnevalsmusik als Unterschichtkäse gilt, darf man sich nicht wundern! Hier könnten wir von anderen Regionen lernen, wie z.B. von Recife in Nordostbrasilien, wo die Verbindung von Dorfmusik, Ghetto-Pop und Alternativkarneval eine sieche Metropole nachhaltig wachgeküsst hat.
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