Verstörte das Aachener Grenzlandtheater im letzten Jahr sein konservatives Publikum noch mit einem Musical – Sondheims „Into the Wood“ – so ging man diesmal keine Experimente ein. Der Broadway-Klassiker „Cabaret“ ist eine „sichere Bank“, zumal sich in der während des aufkeimenden Nationalsozialismus in Berlin spielenden Story heutige Probleme widerspiegeln. Dazu wartet man noch mit einem Coup auf: Man verpflichtete für die Rolle der Sally Bowles die ehemalige No Angels-Sängerin Sandy Mölling. Der für seine präzise Schauspielerführung bekannte Regisseur Ulrich Wiggers holt aus ihr eine beachtliche Bühnenpräsenz heraus. Verbunden werden die dramatischen Episoden der Geschichte durch die Showszenen im Kit-Kat-Klub. Für die hat Marga Render mit ihren drei Girls und einem Boy eine Choreographie einstudiert, die mit spielerischer Schlüpfrigkeit die Balance zwischen Erotik und Vulgarität schafft. Ansonsten hat das schon seit Jahren zusammenarbeitende Künstler-Trio Wiggers , Matthias Winkler (Bühne) und Noelie Verdier (Kostüme) wieder bewiesen, dass kleine Bühnen kein Hinderungsgrund für große Musicals sind.
Im Essener Grillo-Theater nutzt Gastregisseur Reinhardt Friese – Intendant am Theater Hof – die „Unendlichkeit“ des Bühnenraums, um, kongenial unterstützt von Günter Hellweg (Bühne), Michael Hälker (Licht) und Stephan Brauer, der seinen acht Kit-Kat-Girls und Boys spritzige Tänze auf den Leib choreographiert hat, eine fulminante Show abzuliefern, die sich vor dem Broadway nicht verstecken muss. Auf der Drehbühne steht eine dreistufige, runde Glasstein-Pyramide, die von einem riesigen, perforierten Zylinder gekrönt wird. Der wird ab und zu hochgefahren, um eine Tanzfläche mit Showtreppe freizugeben. Das Spiel findet ausschließlich „draußen“ und auf einem über den Orchestergraben führenden Steg statt. Da stehen dem Ensemble nur ein paar Stühle und Accessoires zur Verfügung, um die Szenerien zwischen dem Bahnabteil, in dem der Schriftsteller Bradshaw (Thomas Meczele) den Nazi Ludwig (Stefan Diekmann) kennenlernt, der Pension von Frl. Schneider (Ingrid Domann), in der sich die Nachtclub-Sängerin Sally (Janina Sachau) bei Bradshaw einnistet und dem Obstladen, in dem Frl. Schneider ihre folgenreiche Verlobung mit dem jüdischen Obsthändler Schultz (Rezo Tschchikwischwili)feiert, mit Leben zu füllen. Unter der die einzelnen Charaktere präzise herausarbeitenden Regie machen sie das großartig. Zumal die Lichtkegel, in die sie Hälker bisweilen stellt, das visuelle Konzept der Inszenierung noch betont, die sich beim Show-Stopper „Maybe This Time“, als der in schummriges Rot getauchte Zylinder wie ein futuristisches Raumschiff abzuheben scheint, zu ganz „großem Kino“ aufschwingt. Während Janina Sachau in ihrer ersten Musical-Rolle durchaus zu überzeugen weiß, erklimmt Jan Pröhl als schmierig-sexgeiler, hinkender Conferenciers mühelos das Podest mit den besten (deutschen) Interpreten dieser Rolle.
Info: Für Essen gab es bei Redaktionsschluss keine Karten mehr. www.schauspiel-essen.de
Die Aachener Inszenierung ist nun auf Tour: 1.2. Eupen, 4.2. Düren, 6.2. Baesweiler, 7.2. Kerpen
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Theater als „Schule der Empathie“
Kara und Zintl leiten zukünftig das Schauspiel Essen – Theater in NRW 05/22
Zwischen Musical und Komödienstadl
„Bikini Skandal“ an der Kölner Volksbühne – Musical in NRW 08/24
Die Seele geraubt
„Hello Dolly“ am Gelsenkirchener MiR – Musical in NRW 04/24
Nicht gerade familientauglich
„Frankenstein Junior“ an der Oper Bonn – Musical in NRW 10/23
Wohliges Gruseln im Bergischen
„Addams Family“ im Wuppertaler TiC-Theater – Musical in NRW 06/23
Alle Jahre wieder
„Rocky Horror Show“ am Capitol Theater – Musical in NRW 06/22
Abschied von einer Diva
„Sunset Boulevard“ in Krefeld – Musical in NRW 04/22
Zwei Flops und ein Volltreffer
„Der Mann von La Mancha“ am Theater Münster – Musical in NRW 03/22
Schillernde Vielfalt
Endlich wieder Musicals auf den NRW-Bühnen – Musical in NRW 01/22
Hagen liegt am Broadway
Monty Pythons „Spamalot“ am Theater Hagen – Musical in NRW 11/21
Nur ein paar (Stepp-)Schritte vom Broadway entfernt
„Chicago“ an der Bonner Oper – Musical in NRW 10/21
Sting kann auch Musical
Deutsche Erstaufführung von „The Last Ship“ in Koblenz – Musical in NRW 09/21
Hippie-Flower-Power-Rock
„Hair“ auf Burg Wilhelmstein bei Aachen – Musical in NRW 07/21
Das Musical-Phänomen schlechthin
„The Fantasticks“ in Bad Godesberg – Musical in NRW 07/21
Schlager sind Trumpf
Fetzige Jukebox-Musical in Köln und Aachen – Musical in NRW 04/20
What a Feeling
„Flashdance“ – Vom Kultfilm zum Musical-Hit – Musical in NRW 03/20
Nicht totzukriegender Musical-Klassiker
„My Fair Lady“ am Grenzlandtheater Aachen – Musical in NRW 01/20
Musicals vom Feinsten
„Chicago“ in Koblenz und „I Love You…“ in Aachen – Musical in NRW 01/20
Vom Filmklassiker zum Broadway-Hit
„Pretty Woman“ feiert seine europäische Erstaufführung – Musical in NRW 12/19
Broadway unverfälscht – aber nicht jugendfrei
„The Book of Mormon“ als einziges deutsches Gastspiel in Köln – Musical in NRW 11/19
Jecker gehts nimmer
Travestie-Musical in Köln, „Blues Brothers“ in Wuppertal – Musical in NRW 11/19
Duell der Duos
„Sherlock Musical“ und „West Side Story“ – Musical in NRW 10/19
Erinnerungen an Kino-Glücksgefühle
„Doktor Schiwago“ auf der Freilichtbühne und ein Tipp fürs Heimkino – Musical in NRW 09/19
Broadway unterm Sternenzelt
Freiluft-Musicals warten mit Überraschungen auf – Musical in NRW 08/19
Dem Broadway ganz nahe
Musical-Highlights in Düsseldorf und Köln – Musical in NRW 07/19