Was Andrew Lloyd Webber für den Mainstream ist, ist Stephen Sondheim für das Arthouse-Musical. Wie schwer es Sondheim hierzulande hat, zeigte im letzten Herbst ein Experiment der UCI-Multiplexe. Statt einer Oper aus der „Met“ übertrug man eine Broadway-Produktion seines „Merrily We Roll Allong“ auf die Kino-Leinwand, vor der in Köln-Hürth gerade einmal ein Dutzend Musicalfans saßen. Solche Sorgen muss sich das Grenzlandtheater, die zweitbest-besuchte Privatbühne Deutschlands, nicht machen: Für „Into the Woods“ mussten sogar Zusatzvorstellungen anberaumt werden.
In Sondheims schwarz-humorigem, burleskem Musical vermischt sich das Figuren-Arsenal der Grimmschen Märchen mit dem des angelsächsischen „Hans und die Bohnenstange“. Nach dem Happy-end zur Pause (!) geht es im 2. Akt tiefenpsychologisch in die Vollen: „Sigmund Freud, ick hör dir trapsen!“. Das Glück zerrinnt, die Beziehungen zerbrechen, Untreue und Tod kehren ein – bis die Überlebenden die wahren Werte des (Zusammen-)Lebens erkennen.
Das Opening „Ab in den Wald“ gibt gleich den choreographischen Stil von Marga Renders vor, die mehr auf elegant-flüssige Bewegungsabläufe denn auf ausladende Schrittkombinationen setzt. Im, von Matthias Winkler wie ein Pop-up-Kinderbuch gestaltetem, genialen Bühnenbild, in dem die Bäume aufgeklappt werden und sich so in Rapunzels Turm, eine Bäckerstube oder Aschenputtels Küche verwandeln, entwickelt sich ein heiter-ironisches, manchmal auch boshafte Spiel mit den Märchen-Klischees und allzu menschlichen Verhaltensweisen. Regisseur Ulrich Wiggers hat das ursprünglich dreistündige Werk geschickt gekürzt und damit so manche Redundanzen vermieden, die das Stück manchmal ein wenig auf der Waldboden-Stelle treten lassen. So kommt, selbst im zweiten, etwas moralisierenden Teil, keine Langeweile auf. Das ist natürlich auch dem Ensemble zu verdanken, das Wiggers aus einer gelungenen Mischung aus erfahrenen Musical-Darstellern und Newcomern zusammengestellt hat.
Ab und an fehlt manchem der jungen Talente zwar noch die Ausgereiftheit, um die Wandlung der, im ersten Akt noch karikaturhaft angelegten, Figuren zu mehr menschlicher Tiefe, bis in die letzte Nuance auszufüllen. Aber ihre Spielfreude lässt diesen kleinen Wermutstropfen nicht allzu bitter „schmecken“. Wunderbar, auch gesanglich, füllt Samuel Schürmann seinen „Bäcker“ aus: Da bekommt man richtig Lust, gleich am nächsten Tag seine eigene Sondheim-CD „Sunday“ zu kaufen. Christian Fröhlich gibt nicht nur mit wohlig-gruselnder Erotik den bösen Wolf, sondern treibt das Publikum auch mit seinen virtuellen Reitkünsten zum Szenen-Applaus. Karoline Goebel, der die Aschenputtel-Rolle „passt“ wie der Schuh, singt mit solch einer anrührenden Sanftheit „Ich möchte ...“, dass man ihr sofort jeden Wunsch erfüllen würde. Und die Pantomime-Künste der Kuh, die von einer in einem Ganzkörperkostüm steckenden Statistin „gesteuert“ werden, stehlen den Profis fast die Show. „Ab nach Aachen“ möchte man dem Musical-Fan hier zurufen!
Infos und Tickets: www.grenzlandtheater.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Zwischen Musical und Komödienstadl
„Bikini Skandal“ an der Kölner Volksbühne – Musical in NRW 08/24
Die Seele geraubt
„Hello Dolly“ am Gelsenkirchener MiR – Musical in NRW 04/24
Nicht gerade familientauglich
„Frankenstein Junior“ an der Oper Bonn – Musical in NRW 10/23
Wohliges Gruseln im Bergischen
„Addams Family“ im Wuppertaler TiC-Theater – Musical in NRW 06/23
Alle Jahre wieder
„Rocky Horror Show“ am Capitol Theater – Musical in NRW 06/22
Abschied von einer Diva
„Sunset Boulevard“ in Krefeld – Musical in NRW 04/22
Zwei Flops und ein Volltreffer
„Der Mann von La Mancha“ am Theater Münster – Musical in NRW 03/22
Schillernde Vielfalt
Endlich wieder Musicals auf den NRW-Bühnen – Musical in NRW 01/22
Hagen liegt am Broadway
Monty Pythons „Spamalot“ am Theater Hagen – Musical in NRW 11/21
Nur ein paar (Stepp-)Schritte vom Broadway entfernt
„Chicago“ an der Bonner Oper – Musical in NRW 10/21
Sting kann auch Musical
Deutsche Erstaufführung von „The Last Ship“ in Koblenz – Musical in NRW 09/21
Hippie-Flower-Power-Rock
„Hair“ auf Burg Wilhelmstein bei Aachen – Musical in NRW 07/21
Das Musical-Phänomen schlechthin
„The Fantasticks“ in Bad Godesberg – Musical in NRW 07/21
Schlager sind Trumpf
Fetzige Jukebox-Musical in Köln und Aachen – Musical in NRW 04/20
What a Feeling
„Flashdance“ – Vom Kultfilm zum Musical-Hit – Musical in NRW 03/20
Nicht totzukriegender Musical-Klassiker
„My Fair Lady“ am Grenzlandtheater Aachen – Musical in NRW 01/20
Musicals vom Feinsten
„Chicago“ in Koblenz und „I Love You…“ in Aachen – Musical in NRW 01/20
Vom Filmklassiker zum Broadway-Hit
„Pretty Woman“ feiert seine europäische Erstaufführung – Musical in NRW 12/19
Broadway unverfälscht – aber nicht jugendfrei
„The Book of Mormon“ als einziges deutsches Gastspiel in Köln – Musical in NRW 11/19
Jecker gehts nimmer
Travestie-Musical in Köln, „Blues Brothers“ in Wuppertal – Musical in NRW 11/19
Duell der Duos
„Sherlock Musical“ und „West Side Story“ – Musical in NRW 10/19
Erinnerungen an Kino-Glücksgefühle
„Doktor Schiwago“ auf der Freilichtbühne und ein Tipp fürs Heimkino – Musical in NRW 09/19
Broadway unterm Sternenzelt
Freiluft-Musicals warten mit Überraschungen auf – Musical in NRW 08/19
Dem Broadway ganz nahe
Musical-Highlights in Düsseldorf und Köln – Musical in NRW 07/19
Die „Fleischwerdung“ der guten Laune
„Singin‘ in the Rain“ in Wuppertal – Musical in NRW 06/19