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Missbrauch und Gewalt in Heimen haben viele Gesichter
Foto: Mira Moroz

Es beginnt beim „Du“

28. Februar 2013

Missbrauch in der Pflege ist ein alltägliches Phänomen – THEMA 03/13 SCHUTZBEFOHLEN

Der Missbrauch in der Pflege ist so alltäglich, dass er kaum noch auffällt. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass in der EU gut vier Millionen Pflegebedürftige pro Jahr misshandelt werden und 2.500 Menschen an diesen Misshandlungen sterben. Nicht immer ist der Missbrauch so offensichtlich wie im Fall der Altenpflegerin Michaela G., die in Bonn zwischen 2003 und 2005 neun alte Frauen umgebracht hat und daraufhin zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. „Die Gewalt in der Pflege hat viele Gesichter“, meint Christine Sowinski vom Konsortium Deutsche Altershilfe in Köln. „Sie beginnt bei Vernachlässigung und grober oder aufgezwungener Pflege und reicht bis zu sexuellen Übergriffen und Tötungsdelikten.“ Schon ein unangemessenes Duzen der Patienten ist ein Eingriff in ihre Rechte, und Verniedlichungen oder Bezeichnungen wie „Opi” können bereits auf ein gestörtes Verhältnis zwischen Pflegenden und Patienten hinweisen.

Teils passiert der Missbrauch ganz legal – per Gerichtsbeschluss. Dieser dient häufig als Ausrede, als Freifahrtschein für eine Behandlung der Pflegepatienten, die nach medizinischen Gesichtspunkten nur bedingt notwendig wäre. Besonders deutlich wird das in der richterlich genehmigten Fixierung von Pflegepatienten, die teils mit Gurten an Bauch und Handgelenken daran gehindert werden, sich frei zu bewegen. „Sturzprävention“ lautet in der Regel die Begründung. Gut 140.000 Pflegepatienten sind zurzeit in Deutschland an ihr Bett oder ihren Sessel gefesselt. Eigentlich müsste der Sinn dieser Maßnahme regelmäßig vom Pflegepersonal oder vom Hausarzt überprüft werden. „Wenn diese Entscheidung des Gerichts auf dem Tisch liegt, dann stellt sich die Pflegedienstleitung hin und sagt: ‚Tja, das Gericht hat das ja so gesagt.‘”, erläutert Uwe Brucker, Fachbereichsleitung Pflegerische Versorgung beim Medizinischen Dienst der Spitzenverbände (MDS) in Essen. „Da dreht sich nach meinem Dafürhalten die Ethik der Pflege vollkommen auf den Kopf.”

Wie wir mit Pflegebedürftigen umgehen ist bis auf den letzten Handgriff durchgerechnet
Die Ethik der Pflege zu garantieren, ist jedoch nicht nur Frage des Wollens. Bei der Fixierung von Pflegebedürftigen kommen einige grundlegende Ursachen für Missbrauch in der Pflege zusammen. Zum einen fehlt es am Mut, nach Alternativen zu suchen, obwohl diese in der gut vernetzten Pflegewirtschaft bekannt sind. Das Altersheim Theresienau in Bonn versucht mit rutschfesten Matten auf dem Fußboden und Niedrigbetten, die man bis auf Bodenhöhe hinablassen kann, die Sturzgefahr zu minimieren und verzichtet dadurch darauf, seine Patienten zu fixieren. Gleichzeitig zeigt sich hier aber auch, wie die Qualität der Pflege mit den Arbeitsbedingungen zusammengehängt. Pflege ist ein unattraktiver Beruf, obwohl z. B. die Caritas Köln eine Pflegestelle mit einem Bruttogehalt von 50.000 Euro jährlich kalkuliert. „Trotzdem kommen auf eine offene Stelle nur zwei Bewerber”, erzählt Detlef Silvers von der Caritas Köln. In einem verdichteten Arbeitsumfeld sind Fixierungen – zynisch gesprochen – eine enorme Arbeitserleichterung. Gerade demente Patienten werden durch die Bemühungen des Pflegepersonals häufig irritiert und wehren sich gegen Hilfe. Sind diese Patienten fixiert, fällt es dem Pflegepersonal u.a. leichter, sie mit Nahrung zu versorgen. Durchschnittlich zweieinhalb Stunden täglich beträgt laut Rahmenplan in den Pflegeheimen der Kölner Caritas der Kontakt zwischen Pflegekräften und den gut 700 Bewohnern. Zweieinhalb Stunden, in denen drei Mahlzeiten gereicht werden müssen, Bewohner an- und wieder ausgekleidet und gewaschen werden. Und zweieinhalb Stunden, in denen die Pflege dokumentiert und für den individuellen Pflegeplan aufgezeichnet wird.

Aber wie immer bei solchen Vorgaben ist dies ein Richtwert, der den individuellen Bedürfnissen der Pflege nur schwer gerecht wird. Schon ein unvorhergesehener Stuhlgang kann die minutiös berechnete Pflegeroutine aus der Bahn werfen. „Versuchen Sie mal, einem dementen Menschen das Essen zu reichen“, bemerkt Detlef Silvers von der Caritas Köln. „Das ist nicht in einer Viertelstunde abgefrühstückt.“ Nicht umsonst mahnt der Pflegekritiker Claus Fussek „mehr Ehrlichkeit“ in der Pflege an. Nur noch die Pflegetätigkeiten, die vom Personal angemessen erledigt werden könnten, sollten auch dokumentiert werden. Denn die Kontrollmechanismen in der Altenpflege, die von Pflegenoten für Heime bis hin zu Stichproben durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen dienen, orientieren sich an Richtwerten und bewerten die dokumentierte Pflege. Wie wir mir pflegebedürftigen Menschen umgehen, ist bis auf den kleinsten Handgriff quasi-tayloristisch durchgerechnet – und zwar offensichtlich zu knapp. „Es gibt zig Studien, die sagen, dass man für eine vernünftige Pflege 20 bis 30 Prozent mehr Personal bräuchte", berichtet Detlef Silvers. „Aber ob wer die steigenden Kosten zahlen will, steht auf einem anderen Blatt.“

Die Krise in den Heimen wird häufig thematisiert, die Jahresberichte des MDK sind öffentlich, und jeder kennt Geschichten aus den Altersheimen seiner Stadt. Pflegemissbrauch in Familien ist bislang weitgehend ein Tabu. Dabei hat eine Studie der FU Berlin bereits 2004 herausgefunden, dass 68 Prozent der privat pflegenden Angehörigen von Demenzpatienten schon einmal gewalttätig geworden sind. Trotzdem brauchte es erst Martina Rosenberg, um das Thema öffentlich zu machen. 1996 kehrte sie aus Griechenland nach Deutschland zurück und begann kurz darauf, ihre demente Mutter zu pflegen, erlebte die Veränderungen der agilen, intelligenten Lehrerin zu einer Demenzpatientin. In ihrem Buch „Mutter, wann stirbst du endlich?“ beschreibt sie, wie schwer es ihr fällt sich einzugestehen, dass sie mit der Pflege ihrer Mutter überfordert sein könnte. Der Selbsthass darüber, dass sie den eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird, schlägt schließlich um in die Ablehnung des Menschen, den sie eigentlich liebt. Dies haben Angehörige und Pflegekräfte gemeinsam. Der Missbrauch entsteht aus Situationen, in denen der einzelne an den affektiven Anforderungen seiner – teils unbezahlten – Arbeit scheitert.

CHRISTIAN WERTHSCHULTE

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