„Wie reagiert eine Künstlerin auf etwas, das sie nicht kennt?“ Eine Frage, die sich Thomas Thorausch, stellvertretender Leiter des Deutschen Tanzarchivs Köln, voller Neugierde stellte, als er im letzten Jahr auf den Besuch der polnischen Fotografin Anna Orlowska wartete. Ausgangspunkt war das von der Internationalen Fotoszene initiierte Projekt „Artist meets Archive“. Dessen Konzept darin besteht, Künstler aus Europa nach Köln einzuladen und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, aus dem Material der großen Archive eigene Kunstwerke zu entwickeln. Die in Warschau lebende Künstlerin zeigte sich beeindruckt von der Fülle des Tanzarchivs, das alleine 170.000 Fotografien sein eigen nennt.
Zur Jahresausstellung des Tanzmuseums, die den Titel „Inszenierung | Inspiration – Tanz und Fotografie“ trägt, präsentiert das dem Archiv angeschlossene Museum nun auch Orlowskas Arbeiten für Köln. Die Polin ist eine Spezialistin der Architekturfotografie. Deshalb stellte sie sich sogleich die Frage, wie denn die Räume, in denen getanzt wird, wohl aussehen, wenn keine Menschen in ihnen agieren? Auf Textilien druckte sie für eine Installation Fotografien aus der Villa Wigman und den heiligen Tanzhallen in Hellerau bei Dresden. Das Ergebnis besteht aus einer puristischen Bildkomposition aus Flächen und Faltungen, die einen eigenen Rhythmus entwickeln. Bewegung entsteht hier in der Zweidimensionalität.
Daneben vergaß Orlowska aber nicht den Bezug zu den Körpern, vor allem den weiblichen. Denn die wurden auch im 19. Jahrhundert schon für die Bühne zugerichtet. Um den Körperidealen der Zeit zu entsprechen, trugen die Tänzerinnen Polster unter ihren Kostümen, die ihre Brüste und ihre Hüften voluminöser wirken ließen. Orlowska hat diese Körperattrappen nachbilden lassen. Harmlosigkeit und subtiler Sadismus scheinen sich in diesen Gegenständen zu vereinen, die einfach über eine Ballettstange gehängt wurden.
Den Unberechenbarkeiten der Pandemie Rechnung tragend, hat Thomas Thorausch die Ausstellung luftig gehängt. Gleichwohl bergen die ausgewählten Fotografien manches Geheimnis. Fotografie und Tanz, das sind zwei Medien, die sich immer gegenseitig umworben haben. So nutzte in den 20er Jahren etwa Charlotte Rudolph geschickt die Wirkung der Schatten, um die explosiven Bewegungspotenziale einer Tänzerin wie Gret Palucca zu verdeutlichen. Der Eindruck von Bewegung lässt sich über Nacktheit ebenso wie über die Wirkung von Kleidung erzeugen. Für beides bietet die Ausstellung treffende Beispiele. Konventionen werden darüber zum Thema, denn der tanzende Körper ist das Produkt von Choreografinnen und Fotografen, die ihn für unseren Blick inszenieren.
Wie sich Kultur in den Körper einschreibt, das zeigt dann Beyoncé am Ende der Ausstellung auf einer Großleinwand mit ihrem Clip „Apeshit“, der im Louvre entstand. Hier lässt sich beobachten, wie Körper die Hüllen der Macht abstreifen. Gerade in der Fotografie der tanzenden Körper tritt die Widerständigkeit und die Sehnsucht nach Freiheit ans Licht.
Inszenierung | Inspiration – Tanz und Fotografie | bis 22.2.22 | Deutsches Tanzarchiv Köln | 0221 888 954 00
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