Im Zirkus schaut das Publikum zuweilen bange auf jene Akrobaten, die weit oben auf einem Drahtseil balancieren. Halten sie das Gleichgewicht oder stürzen sie in die Tiefe? Obwohl es die Artisten bekanntlich am Ende meistern, löst die Beobachtung Schauder oder gar Schwindel aus. Vielleicht, weil alles sichtbar ist. Anders ist es jedenfalls bei gesellschaftlichen Kipppunkten.
Constantin Hochkeppel und Collaborators greifen auf das Genre des Physical Theatre zurück, um jenen Kipppunkt einzufangen. Ihre Performance trägt den Moment bereits im Titel: „tipping points“. Die Koproduktion mit der TanzFaktur Köln, der Studiobühne Köln und dem Ringlokschuppen Ruhr feiert im nächsten Monat Premiere – zunächst am 1. April in Köln, bevor diese auch in Mülheim aufgeführt wird.
Hochkeppel und seine Mitarbeiter inszenieren einen Balanceakt, der dazu einlädt, über jene gesellschaftlichen Fragen nachzudenken, die seit Jahren am Drahtseil hängen: Wahrheit und Lüge. In jüngster Zeit wandelte sich etwa das Bild der sozialen Medien. Bündelten diese noch 2011, während des sogenannten Arabischen Frühlings, Hoffnungen auf eine Demokratisierung, so zeitigten sie bekanntlich einen Kipppunkt: als Brandbeschleuniger einer demokratischen Zersetzung. Denn Fake News verdrängen oft seriöse Nachrichtenquellen, wilde Verschwörungsmythen ersetzen eine fundierte (wie reflektierte) Gesellschaftskritik. Es geht also um diese Grenze zwischen Realität und Wahn, an der entlang Constantin Hochkeppel und vier weitere „männlich gelesene Performer*“ tanzen.
Dass Hochkeppel, der in der kommenden Spielzeit die künstlerische Leitung der Sparte „Tanz“ am Stadttheater Gießen übernimmt, komplexe Themen in eine körperbetonte Performance übersetzen kann, bewies er bereits mehrfach. Zuletzt etwa im Ringlokschuppen Ruhr, als er in Kooperation mit der Kompanie „KimchiBrot Connection“ in „keep on survivin’“ (2021) das Motiv von frühen Verlusterfahrungen und den Umgang damit auf der Bühne verhandelte. Ähnlich energetisch wird sicherlich auch sein nächster Physical Theatre-Abend eine gesellschaftliche Fragestellung aufgreifen: Gelingt der Drahtseilakt oder droht der Sturz in den Abgrund?
tipping points | R: Constantin Hochkeppel | 29., 30.4. 20 Uhr | Ringlokschuppen Ruhr | 0208 99 31 60
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Im Kreisrund sind alle gleich
4. Ausgabe des Festivals Zeit für Zirkus – Tanz in NRW 11/24
War das ein Abschied?
Sônia Motas „Kein Ende“ in den Kölner Ehrenfeldstudios – Tanz in NRW 10/24
Die KI spricht mit
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei in Köln – Prolog 10/24
Supergau?
Die TanzFaktur steht wieder einmal vor dem Aus – Tanz in NRW 09/24
Kaffee, Kuchen, Stacheldraht
12. Tanz.Tausch Festival in der Kölner TanzFaktur – Tanz in NRW 08/24
Wunderbar: alles ohne Plan
„Leise schäumt das Jetzt“ in der Alten Feuerwache – Tanz in NRW 07/24
Alles über Füchse
„Foxx“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 07/24
Vor der Selbstverzwergung
Ausstellung zu den „Goldenen Jahren“ des Tanzes in Köln – Tanz in NRW 06/24
Freiheitskampf
„Edelweißpiraten“ in der TF – Theater am Rhein 06/24
Philosophie statt Nostalgie
Das Circus Dance Festival in Köln – Tanz in NRW 05/24
Das Unsichtbare sichtbar machen
Choreographin Yoshie Shibahara ahnt das Ende nahen – Tanz in NRW 04/24
Tennismatch der Kühe
„Mata Dora“ in Köln und Bonn – Tanz in NRW 03/24
Kommt die Zeit der Uniformen?
Reut Shemesh zeigt politisch relevante Choreographien – Tanz in NRW 02/24
Am Ende ist es Kunst
Mijin Kim bereichert Kölns Tanzszene – Tanz in NRW 01/24
Tanz auf Augenhöhe
„Chora“ in der Tanzfaktur – Tanz in NRW 12/23
Eine Sprache für Objekte
Bundesweites Festival Zeit für Zirkus 2023 – Tanz in NRW 11/23