Manchmal packt einen die Sentimentalität mit beiden Fäusten. Beim Anblick der original „Sigurd“ und „Nick der Weltraumfahrer“-Heftchen – von Hansrudi Wäscher 1958 erfunden – lebte eine Zeit vor meinen Augen auf, als dieser Schund verpönt, das Groschenheft gemieden und der geistige Verfall überall noch lauerte. Genau mit dieser Gefahr räumt die Ausstellung „Comics! Mangas! Graphic Novels!“ in der Bonner Bundeskunsthalle auf. Und wer glaubt, da liegen ein paar Mickey-Maus-Hefte im Regal, der wird von der Ausstellungs-Szenografie überrascht werden. Zum ersten Mal hatte ich eine Virtual-Reality-Taucherbrille auf und bin im Fesselballon durch gezeichnete Landschaften geflogen – für mich ein tolles Erlebnis, aber so ein holzfreies Papierheften ist doch schon etwas anderes.
Die Ausstellung zeichnet aber auch die Entwicklung des modernen Comics von seinen Anfängen in den farbigen New Yorker Sonntagsbeilagen bis hin zu Manga und den heute ziemlich aufwändigen Graphic Novels. Für Fans ist das ein Parcours durch die Zeit und durch endlose Stile und Figuren bis hin zum umfangreichen Comic-Shop am Ende und nicht zu vergessen den mit Fäden abgetrennten „Darkroom“ für Erwachsene und den üblichen Hentai-Bildern. Die beiden Kuratoren Alexander Braun und Andreas C. Knigge haben sich viel Mühe gegeben, immer wieder neue inhaltliche Aspekte der Bilderwelt zu präsentieren und mit haptischen Kleinodien zu verfeinern. Rund 300 Exponate aus den USA, aus Europa und Japan werden gezeigt, nicht ohne Stolz wird darauf hingewiesen, dass es die bisher umfangreichste Ausstellung zur Geschichte dieses Bildmassenmediums in Deutschland ist.
In den wilden späten 1960ern wandelte sich das schmuddelige Nachkriegsbild, längst hatten Mickey und Donald die Kinderzimmer erreicht, aber auch Großmeister wie Robert Crumb oder der geniale Gerhard Seyfried mit seinen Köstlichkeiten aus der alternativen Wohngemeinschaft, mit all den Freaks und Bullen, und den gnadenlosen Rasensprengern machten den Weg frei für die heutige Kultur der Graphic Novels von Enki Bilal oder ganz zeitgenössisch von Jan Feindt. Die Manga-Abteilung ist gut bestückt – auch mit Keiji Nakazawas Hiroshima-Bildern – aber in Europa immer noch ein Stiefkind, nicht viele Serien gelangen aus Japan nach Europa. Aber auch die deutsche Szene wird umfangreich dokumentiert. Denn als einer der Vorläufer des Comics wird immer auch Wilhelm Busch (1832-1908) mit seinen Bildgeschichten genannt, die waren zwar mehr etwas für Erwachsene und hatten auch keine Sprechblasen, aber immerhin. Als ältester Comicstrip gelten die „Katzenjammer Kids” vom aus Schleswig-Holstein ausgewanderte Rudolph Dirks (1877-1968). Bereits 1897 hatte die nämlich Sprechblasen und man sieht auch die ursprüngliche Entwicklungsgeschichte des Comics in Europa von „Prinz Eisenherz“ über „Fix und Foxi“ bis „Tim und Struppi“ hat seinen Ursprung in der US-amerikanischen Jugendkultur. Das ist eine Ausstellung für Fans und Pädagogen gleichermaßen.
„Comics! Mangas! Graphic Novels!“ | bis10.9. | Bundeskunsthalle Bonn | 0228 917 12 00
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