Hermann Wolfgang von Waltershausen greift auf die bekannte Novelle „Comtesse à deux maris“, auch veröffentlicht unter dem Titel „Le Comte Chabert“ oder „La Transaction“ von Honoré de Balzac zurück. Der Autor stellt wie so oft in seiner comédie humaine auch hier einen ehrenvollen Charakter einem intriganten Gegenspieler und einer korrupten Gesellschaft gegenüber, woran die Hauptfigur letztendlich scheitert: Der siegreiche Feldherr Chabert wird in der Schlacht in Preußisch-Eylau schwer verletzt und scheintot begraben, jedoch kann er sich befreien und wird von einer Bäuerin gesund gepflegt. Als Bettler umherirrend kommt er ins Irrenhaus, weil er behauptet Oberst Chabert zu sein und alle ihn für verrückt halten. Er nimmt eine neue Identität an, gibt sich als Bettler Hyacinth aus und wird „geheilt“ entlassen. Nach zehn Jahren kehrt er nach Paris zurück und gibt sich als Oberst Chabert zu erkennen. Seine Frau, inzwischen mit einem Grafen verheiratet und Mutter zweier Kinder, bezichtigt ihn des Betruges und bekennt sich auch dann nicht zu ihm, als er ihr seine wahre Identität beweisen kann. Chabert erkennt seine Lebenslüge, die er einst für Liebe hielt. Angeekelt von Falschheit und Korruption verzichtet er auf seinen Namen und sein Vermögen, gibt vor, ein Hochstapler zu sein und schlägt sich am Rande der Gesellschaft weiter als Bettler durch. Viele Jahre später stirbt er im Armenasyl.
Von Waltershausen, in der Nachfolge Richard Wagners auch sein eigener Librettist, ändert die Handlung im Sinne einer finalen Operndramatik ab: Chabert verzichtet in einem Abschiedsbrief auf seine Ansprüche und erschießt sich, seine Frau erkennt ihre Schuld und vergiftet sich. Somit lenkt Waltershausen im Gegensatz zur literarischen Vorlage den Blick im dritten Akt auch verstärkt auf den inneren Konflikt von Chaberts junger Frau und reduziert das Geschehen auf sechs Personen ohne Chor. Die spätromantische Musiksprache ist symphonisch für großes Orchester gesetzt, doch wird das Parlando der Singstimmen nie zugedeckt. Die Leitmotivik Wagners findet in der Komposition ihre Fortsetzung ebenso wie geschärfte Dissonanzen an der Schwelle zur Moderne, ohne jedoch die Grenzen der Tonalität aufzuheben. Manche Klänge erinnern an Richard Strauss, obwohl dies ein Trugschluss ist, da die vermeintlich Strauss´schen Klangeindrücke sich erst in dessen Werken finden, die nach „Oberst Chabert“ entstanden sind.
Die hochemotionale Musik fand beim Publikum bei der Uraufführung im Januar 1912 in Frankfurt sofort begeisterte Zustimmung und trat einen internationalen Siegeszug an. Innerhalb kürzester Zeit war die Oper in Berlin, München, Laibach, Straßburg, Stockholm, Wien, Basel, Brünn, Budapest, London, Prag und Riga zu sehen. Waltershausen wurde bis zur NS-Machtergreifung zu einem gefragten Komponisten. Obwohl politisch rechts-konservativ und Verfechter der deutschen Musiktradition lösten ihn die neuen Herrscher nach 1933 als Direktor der Münchner Akademie für Tonkunst durch den linientreuen Max von Schillings ab – eine späte Rache Hitlers, nachdem von Waltershausen schon 1926 in einen heftigen politischen Disput mit dem späteren Diktator geraten war.
Wo zu sehen in NRW? Oper Bonn | 17.6.(P) 18 Uhr, 21., 27.6., 5., 13.7. je 19.30 Uhr | 0228 77 80 08
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