Wenn es um ihre Rosina geht, dann haben Almaviva und der Doktor Bartolo gleichermaßen ein Brett vor dem Kopf. Und – als würde das nicht genügen – erhalten sie von der Regie gleich eine ganze Kiste übers Haupt gestülpt. Nur der abgezockte Figaro behält den Durchblick und zieht die Fäden wie ein Puppenspieler. Das Bild der Marionetten, die der schlaue Barbier nach Belieben aus der Kiste zaubert und wieder darin verschwinden lässt, beherrscht die Essener Neuinszenierung von Rossinis „Il barbiere di Siviglia“. Jan Philipp Gloger gibt mit dem komischen Zweiakter sein Regiedebüt an der Essener Aalto-Oper.
Kein Zweifel, Gloger mag das Stück wirklich gern. Er kostet die überdrehte Komik mit unverkennbarem Genuss aus – und verlangt seinen Darstellern dabei einiges ab. Geradezu durchchoreografiert wirken die Arien, Duette und sogar die Rezitative. Jede musikalische Phrase bekommt ihre Geste, wenn sie Sänger nicht gar im Laufschritt über die Bühne wirbeln. Steife Rampengesänge kann sich die Regie schon deshalb nicht leisten, weil außer den vielen hölzernen Frachtkisten die Bühne kaum Ankerpunkte zu bieten hat. So schön die Kisten-Idee auch ist, letztlich macht der beinahe vollständige Verzicht auf Requisiten der Regie doch auf Dauer das Leben schwer und die lange Exposition im ersten Akt gerät langatmiger, als sie sein müsste.
Gloger will die gesamte Oper aus Sicht des Figaro zeigen. Ganz konsequent lässt sich das nicht durchhalten, schließlich haben auch die anderen Figuren großen Ehrgeiz, ihre Umwelt zu manipulieren. Es ist eine eitle, geltungssüchtige Gesellschaft, die Gloger aufs Korn nimmt: Baurzhan Anderzhanov hat als überraschend junger Bartolo etwas vom menschenscheuen Andy Warhol mit hellblonder Perücke und einem Outfit, das gut in die 60er passen könnte. Tijl Faveyts gibt als Ozzy-Osbourne-Verschnitt den Basilio, einen testosterongeladenen Gegenpol. Blond sind sie übrigens alle in diesem Stück – was ein wenig die Klischeeblondine Rosina relativiert. Gloger lässt sie lasziv mit roter Geschenkschleife herumstolzieren. Blond steht bei ihr nicht unbedingt für blöd. Denn auch sie ist eine Meisterin der Selbstvermarktung.
Musikalisch hat dieser Barbier dem jungen Dirigenten Giacomo Sagripanti jede Menge Esprit und Witz zu verdanken. Unter den Solisten ragt der Gast Juan José de León als Almaviva hervor, der eine bravouröse Partie singt. Aber auch die Ensemblesänger, allen voran Georgios Iatrou als Figaro und Karin Strobos, bieten eine beachtliche Leistung.
„Il barbiere di Siviglia“ | R: Jan Philipp Gloger | Do 30.6. 19.30 Uhr,So 3.7. 16.30 Uhr , Sa 9.7. 19 Uhr; WA im Sept. | Aalto Musiktheater | 0201 81 222 00
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Goldene Flügel der Sehnsucht
Großes biblisches Drama: „Nabucco“ an der Oper Köln – Oper in NRW 12/24
Triumph der Güte?
„La Cenerentola“ in Essen und Hagen – Oper in NRW 12/24
Besiegt Vernunft die Leidenschaft?
„Orlando“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/24
Unerwartet Kaiserin
„Der Kreidekreis“ in Düsseldorf – Oper in NRW 11/24
Horror und Burleske
Die Spielzeit 24/25 am Gelsenkirchener MiR – Oper in NRW 07/24
Opern-Vielfalt am Rhein
„Nabucco“ eröffnet in Düsseldorf die Spielzeit 2024/25 – Oper in NRW 06/24
„Kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit“
Kapellmeister Hermes Helfricht über Werner Egks „Columbus“ an der Oper Bonn – Interview 06/24
Welt ohne Liebe
„Lady Macbeth von Mzensk“ am Theater Hagen – Oper in NRW 05/24
Die Gefahren der Liebe
„Die Krönung der Poppea“ an der Oper Köln – Oper in NRW 05/24
Absurde Südfrucht-Fabel
„Die Liebe zu den drei Orangen“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 04/24
Grund des Vergessens: Rassismus
Oper von Joseph Bologne am Aalto-Theater Essen – Oper in NRW 03/24
Verpasstes Glück
„Eugen Onegin“ in Bonn und Düsseldorf – Oper in NRW 02/24
Täuschung und Wirklichkeit
Ein märchenhafter Opern-Doppelabend in Gelsenkirchen – Oper in NRW 02/24