Helfen ist menschlich. Sozusagen, urmenschlich. Kulturübergreifend wird Helfen nicht ohne Grund äußerst positiv bewertet. Selbstlosigkeit sichert das Überleben sozialer Gruppen, das ist das Ergebnis zahlreicher Studien in den vergangenen Jahren. Nach der Theorie der Verwandtenselektion des Biologen William Hamilton ist es zum einen dann sinnvoll, das Wohl anderer vor das eigene zu stellen, wenn es sich dabei um Verwandte handelt. Denn stirbt man selbst, überlebt zumindest ein Teil der eigenen Gene. Nur der Flüchtlingsretter auf dem Mittelmeer oder der Arzt ohne Grenzen im Kriegs- oder Seuchengebiet lässt sich nicht mit einem Verwandtschaftsverhältnis erklären.
Menschen leben, unabhängig von Abstammungen, in Gruppen zusammen. Es macht das Leben schlicht einfacher und sicherer. Aber die Sache hat ihren Preis: Von dieser Gruppe und dem Wohlwollen seiner Mitglieder ist der Einzelne sehr abhängig. Darum ist auch die häufig apostrophierte Selbstlosigkeit von Hilfehandlungen wohl eher eine Überhöhung. Denn es gibt durchaus Erwartungen, die Menschen mit geleisteter Hilfe verbinden. Entweder hoffen sie auf Hilfe, wenn sie selbst welche nötig haben, oder aber sie sind auf die Anerkennung aus, die sie für geleistete Hilfe erhalten. Kooperation, so könnte man behaupten, ist auf individueller Ebene gut für den eigenen Ruf. Wer beispielsweise einmal beim Kauf einer Ware übers Ohr gehauen wurde, der sucht sich beim nächsten Geschäft lieber einen anderen Verhandlungspartner. Gerade in Zeiten, in denen Ressourcen knapp sind und Menschen auf Tausch oder Kauf von Waren angewiesen sind, ist es wichtig als kooperativ zu gelten – und das nicht nur in der konkreten Situation, sondern ganz besonders für den eigenen Ruf, der einem schnell vorauseilt.
Auf kollektiver Ebene kann Hilfsbereitschaft aber durchaus als Überlebensstrategie der gesamten Gruppe interpretiert werden, wie der Biomathematiker Sergey Gavrilets mit Computermodellen nachgewiesen hat. Die meisten Modelle, die altruistisches Handeln beschreiben, gehen von Akteuren aus, die mehr oder weniger auf Augenhöhe handeln. Aus menschheitsgeschichtlicher Perspektive ist diese Voraussetzung aber eher die Ausnahme. Das gilt von der Steinzeit bis heute. In einer ersten Computersimulation ging er davon aus, dass der Stärkste in einer Gruppe in der Menschheitsgeschichte immer die Möglichkeit hatte – und heute immer noch hat – den anderen etwas wegzunehmen ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Denn in der Regel ist derjenige mit dem höchsten Status auch derjenige, der andere für Fehlverhalten bestraft oder sie in die Schranken verweist. Wer in einer Gruppe die größte Macht hat, kann diese auf Kosten der anderen ausnutzen. Für die evolutionäre Entwicklung von Hilfsbereitschaft ist das auf den ersten Blick ein denkbar schlechter Nährboden.
In der Simulation, in der zwei Konkurrenten um ein Objekt kämpfen und in dem der stärkere immer gewinnt, berechnete Gavrilets die daraus resultierende Ressourcenverteilung in der Gruppe über tausende Generationen hinweg. Das Ergebnis: Es entstanden Monopole, die dem beim Menschen herausgebildeten Bedürfnis nach Gerechtigkeit fundamental widersprechen. Wie konnten sich Mitgefühl und moralische Werte also herausbilden? In einer zweiten Simulation gesellte Gavrilets einen Beobachter zu den beiden Kontrahenten. Dieser konnte auf Seiten des Schwächeren eingreifen. Interessanterweise in dem Bewusstsein, dass er, bei einem erfolgreichen Kampf, nichts vom Kuchen abbekommen würde. Dennoch griff er immer dann ein, wenn die Koalition Aussicht auf Erfolg hatte. Über tausende Generationen hinweg stellte sich bei diesem Modell dann eine gleichmäßigere Verteilung von Ressourcen ein, die eine Grundvoraussetzung für das Überleben der Gruppe ist. Gavrilets schlussfolgerte, dass sich im Laufe der Evolution Mitgefühl und moralische Werte, die die Hilfsbereitschaft fördern, entwickelt haben, um dieses für das Überleben der Menschheit wichtige Verhalten zu stabilisieren. Das Ergebnis der Simulation räumt jedenfalls mit der apostrophierten Selbstlosigkeit von Hilfeleistungen gehörig auf. Die ethische Ableitung lässt sich so auf den Punkt bringen: Hilf niemandem, der keine Hilfe nötig hat und niemandem, dem die Hilfe nichts bringt.
Einerseits ist es ernüchternd zu sehen, dass jeder Form von Hilfe ein knallhartes Kosten-Nutzen-Kalkül zugrunde liegt. Andererseits erklärt sich so aber der sogenannten Bystander-Effekt: Jene Fälle, in denen wir in einer Situation nicht helfen, obwohl wir denken, wir müssten. Aber auch dann bekommen wir mit einem schlechten Gewissen von der Evolution die Rechnung serviert. Die Pflicht zu helfen hat sich nun mal über tausende Generationen in unser Gehirn gebrannt.
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