Der große Tag ist gekommen. Während die Freunde noch den Bräutigam rasieren, ist die gesamte Familie bereits im Haus. Die kauzigen Alten hocken um eine Wasserpfeife herum, derweil die Braut in ihrem protzig-punkvollen Gemach zurechtgemacht wird. Keine Frage, hier läuft ein komplexes Uhrwerk ab, in dem nichts dem Zufall überlassen wird. Nicht, weil der „Wedding Planner“ hier alles so gut organisiert hat, sondern weil alles von uralten Ritualen vorgegeben ist. Und über allem wacht der Kriminalbeamte: In seinem winzigen, schmucklosen Büro hat er die komplizierte Familienstruktur in einem Organigramm dargestellt. Sind wir Zeuge einer Clan-Hochzeit? Orientalen, wie ein Teil der Kostüme nahelegt, oder doch die Russenmafia?
In der Tat sind es alte russische Hochzeitsrituale, mit denen sich Igor Strawinsky um die 1920er Jahre herum beschäftigt hatte, bevor er seine Tanzkantate – eine Mischform von Ballett und Oper – „Les Noces“ komponierte. Und in der Tat geht es um einen weitverzweigten Familienclan: Auf der Wuppertaler Opernbühne ist es kein Geringerer als der antike Sagenkönig Ödipus, der mit seiner Iokaste die christlich-orthodoxe Vermählung feiert. Das hat der Komponist in seinem selbstgeschriebenen Libretto so nicht vorgesehen. Der Kunstgriff von Regisseur Timofey Kulyabin lässt das etwa halbstündige Kurzstück zum Prolog für Strawinskys weitaus bekannteres Opernoratorium „Oedipus Rex“ werden, das die Geschichte nach der Pause weitererzählt.
Sicher, da steckt einiger Pragmatismus dahinter: Auch der Zweiakter nach Sophokles, an dessen lateinischen Libretto neben Strawinsky auch Jean Cocteau beteiligt war, ist zu kurz, um einen Abend zu füllen, dauert er doch insgesamt keine Stunde.
Aber so völlig an den Haaren herbeigezogen, ist die Zusammenstellung nun auch wieder nicht. Beide Stücke entstanden innerhalb weniger Jahre, und eine Verknüpfung der Handlung hält auch der Logik stand – zumal es der junge Regisseur Kulyabin trotz des tieftragischen Stoffs immer auch mit Humor nimmt. Gut so, der antike Mythen-Stoff ist für ein heutiges Publikum sperrig genug. Strawinsky konnte vor knapp 100 Jahren noch davon ausgehen, dass sein Publikum mit der komplexen Geschichte um Vatermord und Inzest vertraut war. Und doch sah auch er schon eingesprochene Erläuterungen in der Sprache des Publikums vor.
Musikalisch sind zunächst „Les Noces“ ein Parforceritt durch russische Folklorismen und – typisch Strawinsky – starke und markante Rhythmen. So komplex wie der Ablauf der Hochzeitsfeier ist auch die Partitur. Kapellmeister Johannes Pell lässt sie wie ein präzises Uhrwerk schnurren. Getanzt wird dazu zwar nicht, die Gefahr von Langeweile besteht dennoch keineswegs. Die junge Sopranistin Ralitsa Ralinova brilliert als quirlige „Sängerin bei der Hochzeit“ in einer zentralen Rolle. Mit dem Ödipus kommt dann ein deutlicher Stilwechsel. Antike Größe und ein deutlicher Bezug zu Händels barockem Opernstil markieren den Charakter dieses Werks, das zu den Höhepunkten aus Strawinskys neoklassischer Phase gilt. Der junge Tenor Mirko Roschkowski als Ödipus und Mezzosopranistin Almuth Herbst als Iokaste bringen die nötige stimmliche Größe und dramatische Kraft mit. Auch Bariton Simon Stricker als Iokastes Bruder Kreon, der vom Orakel die verhängnisvolle Weissagung überbringt, strotzt vor Kraft. Mit profilierten Sängern wie Sebastian Campione (Teresias) und Sangmin Jeon (Hirte) sind ebenso die kleineren Rollen hervorragend besetzt. Brillieren kann vor allen aber auch der verstärkte Chor unter der Leitung von Markus Baisch. Gleichermaßen hörens- wie sehenswert!
„Les Noces“ & „Oedipus Rex“ | 29.9. 18 Uhr, 19.10., 8.11. je 19.30 Uhr | Opernhaus Wuppertal | 0202 563 76 66
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