Es sind schrille, elektronisch verfremdete Klänge, die über das Kinderzimmer hereinbrechen. Der Spieluhrcharakter ist noch zu erkennen, doch zugleich wird klar: Die Unbeschwertheit der Kindheit, die Freiheit und Geborgenheit sind zerstört. Gelegentlich allerdings brechen noch die schönen Erinnerungen durch: „Huljet, huljet kinderlech, kolsmar ir sent noch jung, wajl fun friling bis zum winter is a kaznsprung“, lautet der Kinderliedtext des polnischen Dichters Mordechai Gebirtig, der nicht zufällig auf Jiddisch ist. Denn die äußere Bedrohung, die hier ins Kinderzimmer eindringt und den Schutzraum zerstört, sind Krieg und Verfolgung. Die britische Surrealistin Leonora Carrington schrieb ihr Drama „La Fête de l´agneau“ (in der englischen Version: „The Baa-Lamb´s Holiday“) 1940 mitten im Zweiten Weltkrieg. Bis es erstmals auf die Bühne kommt, vergehen 55 lange Jahre.
Kurz darauf greifen zwei bedeutende theateraffine Künstlerinnen unserer Zeit den Text wieder auf: Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und die österreichische Komponistin Olga Neuwirth schaffen gemeinsam ein avantgardistisches Musiktheater in 13 Bildern, das 1999 bei den Wiener Festwochen uraufgeführt wird. Der Titel, „Bählamms Fest“, lässt es schon erahnen: So ernst das Thema im Kern auch ist, das Gespann Neuwirth/Jelinek arbeitet durchaus mit Humor – mit schrägem, scharfen und tiefschwarzem Humor.
Sonderlich viele Aufführungen waren dem weniger als zwei Stunden kurzen Werk bislang nicht vergönnt. 2002 brachte es die Hamburger Staatsoper erstmals auf eine deutsche Bühne. Nun ist es bei der Ruhrtriennale in der Bochumer Jahrhunderthalle zu sehen. Die Regie führt das aus Bush Moukarzel und Ben Kidd bestehende Duo „Dead Centre“ aus Irland. Die musikalische Leitung hat Sylvain Cambreling, zurzeit Chefdirigent der Symphoniker Hamburg. Was das Publikum erwartet, hat das Produktionsteam auf eine kurze Essenz gebracht: „In einer fantastisch surrealen Orgie zum Weihnachtsfest verschwimmen die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Lebenden und Toten, Mensch und Tier, Wunsch und Wirklichkeit.“ Neuwirth und Jelinek sprechen von einem „aufgebrochenen Musiktheater“, in dem gesprochene Sprache mit Gesang, live aufgeführte Musik mit Einspielungen und Bühnenhandlung mit Videos vermischt werden. „Dead Centre“ verspricht nun eine Neuinterpretation „in eine Zeit, in der die Grenzen zwischen Realität und Virtualität tatsächlich abhandenkommen und die Flucht in fiktive Wunschwelten als Ausdruck der Verzweiflung über unmenschliche Kälte und Barbarei neue Dimensionen zum Vorschein bringt.“
Bählamms Fest | 15., 16., 18., 19., 21., 22.8. je 21 Uhr | Jahrhunderthalle Bochum | 0234 97 48 33 00 | www.ruhrtriennale.de
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