Tom Schreiber, Jahrgang ‘69, war Kamera- und Fotoassistent, bevor er an der Kunsthochschule für Medien in Köln studierte. Nach „Narren“ von 2003 ist „Dr. Alemán“ sein zweiter Kinofilm.
choices: Bereits in Narren begleitete der Zuschauer den Protagonisten durch eine ihm fremde und seltsame Welt. Dort war es der Kölner Karneval, hier ist es das raue Leben in den Favelas Kolumbiens. Inwiefern lassen sich die doch sehr unterschiedlichen Orte der Handlung beziehungsweise die Filme vergleichen?
Tom Schreiber: Es geht bei beiden Filmen um ein neues, unbekanntes Umfeld, das die Hauptfigur beeinflusst. Ist es in „Narren“ noch der aufgezwungene Einfluss dieses Umfeldes, so ist es in „Dr. Alemán“ eine gewollte Suche nach dem Unbekannten als Herausforderung für das Leben. Bei beiden Figuren gibt es da eine Naivität. In „Narren“ ist es die unbewusste Naivität, die aus einer Schüchternheit und auch Angst vor dem Leben herrührt. In „Dr. Alemán“ ist es eine bewusste Naivität mit dem Glauben, dass man, nur wenn man naiv ist, neue Dinge entdecken kann. Sowohl die negativen als auch die positiven.
Die Schilderung des Lebens in den Favelas wirkt sehr realistisch. Wie gestaltete sich die Recherche, wie das Casting?
Als erstes hatten wir die Briefe und Erzählungen eines Freundes, der vor ca. 12 Jahren in Cali war und sein praktisches Jahr dort verbrachte. Aus diesen Erzählungen entstanden die Figurenkonstellationen in unserem Film. Zusätzlich recherchierte der Drehbuchautor Oliver Keidel bei vielen Kolumbianern, die wie er in Barcelona leben. 1 1/2 Jahre vor Drehbeginn waren wir dann das erste Mal in Cali, um unser Buch zu überprüfen und um in der Favela Siloé die ersten Castings und Schauspielworkshops zu organisieren. Die Workshops haben wir in Zusammenarbeit mit einer Theatergruppe aus Cali die ganze Zeit vor den Dreharbeiten weiter geführt, um schließlich aus einem Casting von mehr als 1000 Jugendlichen 40 für einen zweimonatigen Workshop speziell für den Film auszusuchen. Innerhalb dieses Workshops habe ich mich dann für die Besetzung der Rollen entschieden. Durch diese 1 1/2 Jahre Vorbereitung haben wir einen sehr engen Kontakt zum Viertel aufbauen können, der uns bei den Dreharbeiten sehr geholfen hat. Wir konnten so ganz nahe an dem, was wir gesehen und erlebt hatten, die Geschichte erzählen. Alle weiteren Rollen sind mit professionellen Schauspielern, zumeist aus Bogota, besetzt. Marleyda Soto ist so etwas wie das Bindeglied zwischen diesen Welten. Sie ist ausgebildete Theaterschauspielerin aus Cali und lebt in einer Favela, die Siloé gleicht.
Waren für die Dreharbeiten Sicherheitsmaßnahmen notwendig, oder konnte man ohne Probleme auf den Straßen drehen?
Durch eine lange Vorbereitung unseres ausführenden Produzenten Antorchafilm gab es außer an zwei oder drei Drehtagen keine besonderen Sicherheitsmaßnahmen. Gerade in Siloé war es wichtig, dass wir mit Leuten aus dem Viertel zusammenarbeiteten. Mit der Polizei wären wir gar nicht in das Viertel gekommen und hätten vor allem niemals ein Vertrauensverhältnis dort aufbauen können.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Die Geschichte ist jetzt unfassbar aktuell“
Regisseur Andreas Dresen über „In Liebe, Eure Hilde“ – Gespräch zum Film 10/24
„Es geht um Geld, Gerechtigkeit und Gemeinschaft“
Regisseurin Natja Brunckhorst über „Zwei zu eins“ – Gespräch zum Film 07/24
„Alles ist heute deutlich komplizierter geworden“
Julien Hervé über „Oh la la – Wer ahnt denn sowas?“ – Gespräch zum Film 03/24
„Versagen ist etwas sehr Schönes“
Regisseur Taika Waititi über „Next Goal Wins“ – Gespräch zum Film 01/24
„Ich muss an das glauben, was ich filme“
Denis Imbert über „Auf dem Weg“ – Gespräch zum Film 12/23
„Bei Schule können wir nicht einfach etwas behaupten“
3 Fragen an Johannes Duncker, Drehbuchautor von „Das Lehrerzimmer“ – Gespräch zum Film 04/23
„Ich hatte bei diesem Film enorm viel Glück“
Tarik Saleh über „Die Kairo Verschwörung“ – Gespräch zum Film 04/23
„Ich wollte das Geheimnis seiner Kunst ergründen“
Regina Schilling über „Igor Levit – No Fear“ – Gespräch zum Film 10/22
„Ich wollte das damalige Leben erfahrbar machen“
Maggie Peren über „Der Passfälscher“ – Gespräch zum Film 10/22
„Migration wird uns noch lange beschäftigen“
Louis-Julien Petit über „Die Küchenbrigade“ – Gespräch zum Film 09/22
„Die Wüste ist ein dritter Charakter im Film“
Stefan Sarazin über „Nicht ganz koscher – Eine göttliche Komödie“ – Gespräch zum Film 08/22
„Diese Generationenkonflikte kennen viele“
Katharina Marie Schubert über „Das Mädchen mit den goldenen Händen“ – Gespräch zum Film 02/22
„In der Geschichte geht es um Machtverhältnisse“
Bettina Oberli über „Wanda, mein Wunder“ – Gespräch zum Film 01/22
„Wir wollten kein langweiliges Biopic machen“
Regisseur Andreas Kleinert über „Lieber Thomas“ – Gespräch zum Film 11/21
„Gustave Eiffel war seiner Zeit voraus“
Martin Bourboulon über „Eiffel in Love“ – Gespräch zum Film 11/21
„Richtiges Thema zur richtigen Zeit“
Sönke Wortmann über „Contra“ – Gespräch zum Film 10/21
„Wie spricht man mit einem Kind über den Tod?“
Uberto Pasolini über „Nowhere Special“ – Gespräch zum Film 10/21
„Seine Kreativität lag lange im Verborgenen“
Sonia Liza Kenterman über „Der Hochzeitsschneider von Athen“ – Gespräch zum Film 09/21
„Du denkst, die Erde bebt“
Regisseurin Anne Zohra Berrached über „Die Welt wird eine andere sein“ – Gespräch zum Film 08/21
„Ich würde so gerne gehen. Aber ich weiß nicht, wohin“
Produzentin Bettina Wente über „Nahschuss“ – Gespräch zum Film 08/21
„Es geht bei Fassbinder um Machtstrukturen“
Oskar Roehler über „Enfant Terrible“ – Gespräch zum Film 10/20
„Familienfilm mit politischer Haltung“
Dani Levy über „Die Känguru-Chroniken“ – Gespräch zum Film 03/20
„Nicht alles erklären“
Patrick Vollrath über „7500“ – Gespräch zum Film 01/20
„Corinna Harfouch ist eine Klasse für sich“
Jan-Ole Gerster über „Lara“ – Gespräch zum Film 11/19
„Der Film brauchte eine Bildgewalt“
Christian Schwochow über „Deutschstunde“ – Gespräch zum Film 10/19