Marc Wiese studierte zunächst Philosophie, dann Journalistik in Dortmund. Seit 1994 macht er vielfach ausgezeichnete Fernsehdokumentationen. „Camp 14“ ist sein zweiter Langfilm.
choices: Herr Wiese, Ihr Film erzählt von dem kaum fassbaren Schicksal des Shin Dong-hyuk in einem nordkoreanischen Lager. Wie sind Sie auf seine Geschichte gestoßen?
Marc Wiese: Ich habe in der Washington Post einen Artikel über Shin gelesen und dachte: Das muss man verfilmen. Mich hat am meisten fasziniert, dass er in diesem Lager geboren wurde und bis er 23 Jahre alt war keine Ahnung hatte, dass die Welt dahinter anders ist. In den Lagern ist es bei Todesstrafe verboten, über das Vorleben draußen zu sprechen. Der ist also wie Kaspar Hauser im Keller aufgewachsen und hatte keine Ahnung von der Welt da draußen. Im Gegensatz zu Nelson Mandela oder anderen fehlte ihm völlig die Idee von Freiheit. Das ist von unserem Vorstellungsvermögen so weit entfernt, dass mich dieses Motiv dazu gebracht hat, den Stoff zu verfilmen.
Sie interviewen auch zwei ehemalige Mitarbeiter des Regimes. Man glaubt kaum, was sie vor laufender Kamera über ihre Taten berichten ...
Ich habe in Belfast gedreht, mit der Intifada, mit Al-Aqsa-Brigaden, weil ich nicht nur Opferfilme machen will. Aber ich habe es nie erlebt, dass Leute in der Ich-Person erzählt haben, was sie getan haben. Normalerweise verkleiden die das in Sätze wie „es war üblich“, um aus der persönlichen Verantwortung zu kommen. Die beiden Täter in meinem neuen Film haben mich aber sehr an den Eichmann-Prozess erinnert. Es ist erschreckend, mit welcher Ruhe die diese unglaublichen Dinge erzählen. Es ist auch sehr verwirrend, wenn man den einen nach der Schilderung einer Vergewaltigung mit seinem kleinen Sohn beim Einkauf sieht. „Camp 14“ ist für mich auch ein Film über drei Menschen, die von einem System dominiert und gebrainwashed wurden.
So zynisch das klingt: Täter sind meist spannendere Protagonisten als Opfer. So bringt Shin Dong-hyuks Täterschaft einen zusätzlichen dramaturgischen Dreh in den Film ...
Dramaturgisch gesehen müssen die Figuren ja eine Entwicklung durchmachen. Am Anfang stehen sie sich als Täter und Opfer so konträr gegenüber, wie es nur geht. In der Mitte des Films wird Shin aber auch indirekt zum Täter und hat, wie die beiden anderen, das System überhaupt nicht hinterfragt – also eine sehr ähnliche Haltung. Am Ende sind sie wieder konträr – aber völlig unerwartet: Die Täter sind froh, aus dem System heraus zu sein, und das Opfer, das heilfroh sein müsste, sehnt sich zurück.
Angestoßen durch die Erfolge von „Persepolis“ und „Waltz with Bashir“ findet man in Dokumentarfilmen wie „The Green Wave“ zurzeit häufiger Zeichentricksequenzen. Warum bauen Sie Zeichentrick ein, was kann er leisten, was andere filmische Mittel nicht leisten können?
Man hätte auch einen reinen Interviewfilm machen können – es gibt ja eigentlich kein Bildmaterial aus den Lagern. Ich wollte aber auch die Atmosphäre visualisieren. Ich war erst sehr kritisch, ob das bei so einem Thema funktioniert und nicht lächerlich wird. Es durfte daher keine Eins-zu-eins-Abbildung des Erzählten werden, sondern die Atmosphäre sollte verdichtet und die Details für den Zuschauer visualisiert werden.
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