Angela Schanelec, Jahrgang '69, hat in den 80er Jahren in Frankfurt Schauspiel studiert. Nach einigen Theaterengagements studierte sie in den 90er Jahren in Berlin Regie. Seit 1995 dreht sie Spielfilme, darunter „Mein langsames Leben“ (2001), „Marseille“ (2004) und „Nachmittag“ (2007).
choices: Frau Schanelec, Ihr neuer Film ist sehr dialoglastig und außerdem anders als ihre früheren Filme an einen Ort gebunden. Etwas provokant gefragt: Was unterscheidet Ihren Film von einem Theaterstück?
Angela Schanelec: Sich auf einen Ort zu konzentrieren, ist weder ein Merkmal für das eine oder das andere. Um bei meinen Filmen zu bleiben: Auch bei „Nachmittag“, dem Film, den ich vor Orly gedreht habe, ist die Handlung bis auf sehr wenige Szenen auf ein Motiv beschränkt.
„Orly“ ist wie ein Episodenfilm aufgebaut, die Überleitungen der einzelnen Geschichten sind durch kurze Intermezzi strukturiert. Gibt es außer dem gemeinsamen Ort der Ereignisse einen Zusammenhalt der Episoden?
Bedingt durch den gemeinsamen Ort befinden sich die Figuren alle in der Situation des mehr oder weniger erzwungenen Wartens. Dadurch ändert sich etwas in ihrer Wahrnehmung, es gelingt ihnen ein anderer Blick auf ihr Gegenüber und auch auf sich selbst.
Was bedeutet der Ort für Sie – Flughafen im Allgemeinen und dieser Pariser Flughafen im Speziellen?
Orly hat für mich, bedingt durch die transparente Architektur, eine entspannte Atmosphäre, in der man zur Ruhe kommen kann. Ich fing an zu überlegen, was diese unverhoffte Ruhe mit den Leuten, die sich dort aufhalten, anstellt, und begann, Szenen zwischen Passagieren zu schreiben, die sich kennen, oder kennenlernen ... In dieser Phase habe ich mir auch andere Flughäfen angesehen und festgestellt, dass gerade neuere und sehr ambitioniert und teuer gebaute Gebäude wenig inspirierend sind, da jeder Quadratmeter so funktionalisiert ist, dass sie eher Stress fördern als Gelassenheit.
Wie verliefen die Dreharbeiten? Haben sie während des laufenden Flughafenbetriebs gefilmt, oder sind neben den Hauptdarstellern Statisten zu sehen?
Statisten gab es nur bei der Evakuierung. Sie bewegen sich zwischen den wirklichen Passagieren. An den anderen Tagen haben wir gedreht, ohne abzusperren und ohne auf den laufenden Betrieb Einfluss zu nehmen.
Die Evakuierung des Flughafengebäudes erscheint wie eine vom Zufall bestimmte Auflösung der Szenerie. Ist die Szene inszeniert, und wenn ja, was hat Sie zu diesem Ende bewogen?
Nicht nur die Evakuierung, sondern der ganze Film beruht auf einer Inszenierung, die die Begegnungen flüchtig und zufällig erscheinen lässt. Dass am Ende alle gehen müssen, bis der Raum, der die ganze Zeit voll von Leben und Geschichten ist, leer ist, wirklich ganz leer, verbindet die vielen einander Unbekannten miteinander, deutlicher als jede Erzählung es könnte. Dieses verbindende Moment finde ich wichtig. Es ist tröstlich.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Die Geschichte ist jetzt unfassbar aktuell“
Regisseur Andreas Dresen über „In Liebe, Eure Hilde“ – Gespräch zum Film 10/24
„Es geht um Geld, Gerechtigkeit und Gemeinschaft“
Regisseurin Natja Brunckhorst über „Zwei zu eins“ – Gespräch zum Film 07/24
„Alles ist heute deutlich komplizierter geworden“
Julien Hervé über „Oh la la – Wer ahnt denn sowas?“ – Gespräch zum Film 03/24
„Versagen ist etwas sehr Schönes“
Regisseur Taika Waititi über „Next Goal Wins“ – Gespräch zum Film 01/24
„Ich muss an das glauben, was ich filme“
Denis Imbert über „Auf dem Weg“ – Gespräch zum Film 12/23
„Bei Schule können wir nicht einfach etwas behaupten“
3 Fragen an Johannes Duncker, Drehbuchautor von „Das Lehrerzimmer“ – Gespräch zum Film 04/23
„Ich hatte bei diesem Film enorm viel Glück“
Tarik Saleh über „Die Kairo Verschwörung“ – Gespräch zum Film 04/23
„Ich wollte das Geheimnis seiner Kunst ergründen“
Regina Schilling über „Igor Levit – No Fear“ – Gespräch zum Film 10/22
„Ich wollte das damalige Leben erfahrbar machen“
Maggie Peren über „Der Passfälscher“ – Gespräch zum Film 10/22
„Migration wird uns noch lange beschäftigen“
Louis-Julien Petit über „Die Küchenbrigade“ – Gespräch zum Film 09/22
„Die Wüste ist ein dritter Charakter im Film“
Stefan Sarazin über „Nicht ganz koscher – Eine göttliche Komödie“ – Gespräch zum Film 08/22
„Diese Generationenkonflikte kennen viele“
Katharina Marie Schubert über „Das Mädchen mit den goldenen Händen“ – Gespräch zum Film 02/22
„In der Geschichte geht es um Machtverhältnisse“
Bettina Oberli über „Wanda, mein Wunder“ – Gespräch zum Film 01/22
„Wir wollten kein langweiliges Biopic machen“
Regisseur Andreas Kleinert über „Lieber Thomas“ – Gespräch zum Film 11/21
„Gustave Eiffel war seiner Zeit voraus“
Martin Bourboulon über „Eiffel in Love“ – Gespräch zum Film 11/21
„Richtiges Thema zur richtigen Zeit“
Sönke Wortmann über „Contra“ – Gespräch zum Film 10/21
„Wie spricht man mit einem Kind über den Tod?“
Uberto Pasolini über „Nowhere Special“ – Gespräch zum Film 10/21
„Seine Kreativität lag lange im Verborgenen“
Sonia Liza Kenterman über „Der Hochzeitsschneider von Athen“ – Gespräch zum Film 09/21
„Du denkst, die Erde bebt“
Regisseurin Anne Zohra Berrached über „Die Welt wird eine andere sein“ – Gespräch zum Film 08/21
„Ich würde so gerne gehen. Aber ich weiß nicht, wohin“
Produzentin Bettina Wente über „Nahschuss“ – Gespräch zum Film 08/21
„Es geht bei Fassbinder um Machtstrukturen“
Oskar Roehler über „Enfant Terrible“ – Gespräch zum Film 10/20
„Familienfilm mit politischer Haltung“
Dani Levy über „Die Känguru-Chroniken“ – Gespräch zum Film 03/20
„Nicht alles erklären“
Patrick Vollrath über „7500“ – Gespräch zum Film 01/20
„Corinna Harfouch ist eine Klasse für sich“
Jan-Ole Gerster über „Lara“ – Gespräch zum Film 11/19
„Der Film brauchte eine Bildgewalt“
Christian Schwochow über „Deutschstunde“ – Gespräch zum Film 10/19