Kniehoch steht das Wasser in dem gewaltigen Planschbecken, das die die eingenebelten Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord fast zu einem Drittel füllt. Ein älterer Mann in der Mitte des Bassins blickt erwartungsvoll eine blonde junge Frau an, die mit strahlendem Gesicht auf ihn zu watet. Er taucht ihren Kopf rücklings kurz unter Wasser. Die Frau schlägt ergriffen und gerührt die Hände vors Gesicht. Eine letzte Umarmung, dann verlässt der Alte das Becken, während die Frau den nächsten Täufling erwartet. In einer langen Reihe besteigen Frauen und Männer das Becken und unterwerfen sich dem Ritual.
Romeo Castellucci, der italienische Performer, bildende Künstler und Kopf der Gruppe „Societas Raffaele Sanzio“ untersucht in seiner neuen Produktion „Folk.“ bei der Ruhrtriennale die konstituierenden Momente von Gemeinschaften. So schön die bunte Welt der Individualisierung sein mag, Menschen schließen sich aus dürftigsten Anlässen zusammen, ob das nun die Apple-User oder Süßwein-Liebhaber sind. Doch wer gehört dazu und wer nicht? Woher das Bedürfnis, sich zuammenzuschließen und welche Rituale braucht es? Die etwa 100 Statisten und Akteure in Alltagskleidung sind unter den 200 Zuschauern kaum auszumachen, man erkennt sie allenfalls an ihren leichten Leinenschuhen. Zusammen bilden alle eine theatrale communio. Die einen hüpfen ins Wasser, die anderen bleiben trocken und schauen. Doch der Funke der Erleuchtung will nicht recht überspringen. Castelluccis simples Initiationsbild kommt der prekären Balance jeder Gemeinschaft zwischen Freiheitsverzicht und Sicherheitsgewinn, Gleichheit und Individualität nicht wirklich bei. Sein hoher und schlagender Symbolgehalt steht in keinem Verhältnis zur realen Komplexität des Themas.
Wer sich zusammenschließt, grenzt sich kulturell und kommunikativ gegen Außenstehende ab. Wir hier drinnen, ihr da draußen – das ist die Devise. Mit Donnerschlägen prallen plötzlich Gegenstände an die milchigen Rundbogenfenster in Duisburg. Man braucht einige Zeit, um zu realisieren, dass es sich um Menschenkörper handelt, die entfernt an Hitchcocks Film „Die Vögel“ denken lassen. Besucher und Akteure rücken unwillkürlich zusammen. Doch die bedrohlichen Schattenwesen entpuppen sich bald als verzweifelte Ausgeschlossene, die gegen das Glas hämmern und offenbar um Einlass begehren – bis sie in Kreuzigungshaltung nach hinten wegkippen.
Die Täuflinge ziehen schließlich den Stöpsel am Bassin und fluten die Gebläsehalle. Die Wassermassen schießen in den Raum und wer keine nassen Füße bekommen will, flüchtet auf die seitlichen Gitterroste. Es wird urwaldfeucht. Am Ende sitzt ein verzweifelter alter Mann in der Mitte des Raumes und versucht (religiöse) hölzerne Symbole wie Halbmond, Dreieck oder Kreis in vorgestanzte Löcher zu stecken. Dass es sich auch das Thema Demenz gehen soll, wie das Programmheft suggeriert, bleibt eher Behauptung – wie so vieles an diesem Abend. Anders als noch bei seinem bewegenden Stück „On the Concept of the Face, Regarding the Son of God, vol.1.“ beim Theater der Welt-Festival erschöpft sich Castelluccis stummes Konzepttheater diesmal in der selbstgenügsamen Mehrdeutigkeit seiner Bilder.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Endspurt für Mammut-Projekt
Beethovenhalle kurz vor der Fertigstellung – Theater in NRW 11/24
Jünger und weiblicher
Neue Leitungsstruktur am Mülheimer Theater an der Ruhr – Theater in NRW 10/24
Überleben, um zu sterben
Bund will bei der Freien Szene kürzen – Theater in NRW 09/24
Bessere Bezahlung für freie Kunst
NRW führt Honoraruntergrenzen ein – Theater in NRW 08/24
Mit allen Wassern gewaschen
Franziska Werner wird neue Leiterin des Festivals Impulse – Theater in NRW 07/24
„Zero Waste“ am Theater
Das Theater Oberhausen nimmt teil am Projekt Greenstage – Theater in NRW 06/24
Demokratie schützen
Das Bündnis Die Vielen ruft zu neuen Aktionen auf – Theater in NRW 05/24
Theatrales Kleinod
Neues Intendanten-Duo am Schlosstheater Moers ab 2025 – Theater in NRW 04/24
Neue Arbeitszeitregelungen
Theater und Gewerkschaften verhandeln Tarifvertrag – Theater in NRW 03/24
„Der Tod ist immer theatral“
Theatermacher Rolf Dennemann ist gestorben – Theater in NRW 02/24
Standbein und Spielbein
Pinar Karabulut und Rafael Sanchez gehen nach Zürich – Theater in NRW 01/24
Das diffamierende Drittel
Einkommensunterschiede in der Kultur – Theater in NRW 12/23
Neues Publikum
Land NRW verstetigt das Förderprogramm Neue Wege – Theater in NRW 11/23
Analoge Zukunft?
Die Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund eröffnet ihren Neubau – Theater in NRW 10/23
Tausch zwischen Wien und Köln
Kay Voges wird Intendant des Kölner Schauspiels – Theater in NRW 09/23
Folgerichtiger Schritt
Urban Arts am Theater Oberhausen – Theater in NRW 08/23
Neue Allianzen
Bühnen suchen ihr Publikum – Theater in NRW 07/23
Interims-Intendant für den Neuanfang
Rafael Sanchez leitet ab 2024 das Schauspiel Köln – Theater in NRW 06/23
And the winner is …
Auswahl der Mülheimer Theatertage – Theater in NRW 04/23
Knappheit und Kalkulation
Besucher:innenzahlen am Theater steigen – Theater in NRW 03/23
Gegen Ausbeutung und Machtmissbrauch
Klassenkämpferischer Wind weht durch die Theater – Theater in NRW 02/23
Mehr Solidarität wagen
Die Theater experimentieren mit Eintrittspreisen – Theater in NRW 01/23
Zeichenhafte Reduktion
NRW-Kunstpreis an Bühnenbildner Johannes Schütz verliehen – Theater in NRW 12/22
Bessere Konditionen
EU stärkt Solo-Selbstständige im Theater – Theater in NRW 11/22
Internationale Vernetzung
Olaf Kröck verlängert Vertrag bei den Ruhrfestspielen – Theater in NRW 10/22