Mittwoch, 4. November: Seine Uraufführung hatte „Die Hälfte der Stadt“ zwar schon im Mai auf dem DOK.fest in München gefeiert, den Auftakt seiner Premierenreise zum Bundesstart machte Pawel Siczek allerdings nun in Köln, wo mit RealFiction auch der Verleih seines Films beheimatet ist. Nach der Projektion seines Porträts des polnisch-jüdischen Fotografen Chaim Berman, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in seiner Heimatstadt Kozienice die meisten Bewohner ablichtete, stand der Filmemacher den Fragen von Moderator Joachim Kühn und des interessierten Publikums Rede und Antwort. Rund drei Jahre hatten die Recherchen Siczeks zum Film gedauert, welcher zunächst eigentlich lediglich eine Dokumentation über die Region in Polen werden sollte, aus der auch der Regisseur selbst stammt. „Meine Familie ist schon sehr früh aus der Region von Kozienice emigriert. Ich wollte eine filmische Rückkehr nach Polen machen und bin dabei auf die Fotos und die Figur Chaim Berman gestoßen“, berichtete Siczek von den Anfängen seines Projekts.
Berman hatte vor dem Zweiten Weltkrieg ein Fotoatelier in der Stadt und im Laufe der Jahre fast sämtliche Einwohner in seinem Studio porträtiert, darunter auch etliche andere Juden, später aber auch deutsche Besatzer und nationalsozialistische Soldaten. Da sowohl das gesamte Stadtarchiv als auch die Sammlung der Synagoge von Kozienice abgebrannt sind, gibt es fast keine offiziellen Dokumente zur Stadtgeschichte mehr. Mit Ausnahme der Glasnegative und Fotos von Chaim Berman, die bis in die 1990er Jahre hinein auf einem privaten Dachboden gelagert wurden. Dann kaufte sie ein findiger Antiquar den Hausbesitzern ab und veräußerte sie, mit blumig hinzuerfundenen Geschichten über die Abgebildeten, an historische Archive in Warschau und Israel. Letzteres erfährt man allerdings nur unter vorgehaltener Hand, so Siczek, weil die Fotos aus kulturellen Gründen in Polen hätten verbleiben müssen. Die Gesamtzahl der erhaltenen Berman-Fotografien schätzt der Regisseur auf rund 10.000 Stück. Sie bildeten im Wesentlichen die Grundlage für den Erzählstrang von „Die Hälfte der Stadt“. Darüber hinaus versuchte Siczek, mit so vielen Zeitzeugen wie möglich zu sprechen, was ihn auf seinen Recherchereisen schließlich auch in die Schweiz und in die USA führte, wo er jüdische Flüchtlinge aus Kozienice ausfindig machen konnte. Ihre Geschichten über Chaim Berman, aus den unterschiedlichsten Perspektiven, führten dazu, dass Pawel Siczek die Ereignisse in seinem Film teilweise fiktionalisiert aufarbeitete.
Aus Mangel an entsprechendem Bewegtbildmaterial hat er weite Teile der privaten Erlebnisse Chaim Bermans als Animationsfilm nachgestellt. Die Idee dazu kam ihm schon in einem sehr frühen Stadium der Projektentwicklung, weil Siczek sich immer die Frage stellen musste, wie er mit der Vergangenheit umgehen und wie er sie darstellen solle. Weder ein Re-Enactment mit Schauspielern noch ein schulmeisterliches Referat vor Standfotos schienen ihm hier angemessen. Die Abstraktion und Distanz, die durch eine Animation entstehen, empfand er als wesentlich passender. „Ich wollte von dem ausgehen, was man vor Ort antrifft. Und Kozienice ist von naiver Malerei und Volkstheater geprägt, deswegen habe ich mich für animiertes Volkstheater für die fiktionalisierten Szenen entschieden“, erläuterte Siczek. Wem dies auf den ersten Blick als unangemessen erscheint, dem hält der Regisseur entgegen, dass auch Holocaust-Überlebende ihre Erfahrungen auf die unterschiedlichsten Weisen verarbeitet haben, dass es auch bei ihnen realistische, naive oder gar abstrakte Umsetzungen gibt. Für „Die Hälfte der Stadt“ ist es Pawel Siczek jedenfalls gelungen, die Lücken in seiner Dokumentation mit Einfallsreichtum geschickt zu schließen.
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