„Also sprach sie und rief den schöngelockten Gespielen: Dirnen, steht mir doch still! Wo fliehet ihr hin vor dem Manne? Meinet ihr etwa, er komme zu uns in feindlicher Absicht? Nein, er kommt zu uns, ein armer irrender Fremdling, dessen man pflegen muß. Denn Zeus gehören ja alle Fremdling' und Darbende an“ – So spricht Nausikaa in Homers „Odyssee“, als der völlig verwahrloste Odysseus auf seiner Irrfahrt ans Ufer des Phäakenlandes gespült wird. Man braucht nicht viel Phantasie, um hier ein anderes europäisches Modell zu erkennen als das des Schengen-Abkommens. Anstatt Festung Europa ein Archipel Europa, in dem das Gastrecht höchste Priorität genießt. Dass die Stadttheater in Moers, Oberhausen, Mülheim, Bochum, Essen und Dortmund sich die „Odyssee“ als Ausgangspunkt für ein Theaterprojekt im Rahmen von RUHR.2010 gewählt haben, hat also durchaus einen politischen Grund.
Der Blick ist der von heute. Die Theater haben sechs europäische Autoren mit der Fortschreibung des antiken Epos beauftragt. Roland Schimmelpfennig übersetzt Odysseus‘ Begegnung mit Teiresias im Hades ins Heute. Da schickt Emine Sevgi Özdamar eine junge Frau auf eine Irrfahrt von Istanbul nach Mitteleuropa; in Christoph Ransmayrs „odysseus verbrecher“ erscheint die Heimat selbst als das Fremde, Enda Walsh wiederum lässt sechs Bier trinkende, verfettende Männer auftreten, deren einziger Lebenssinn die vergebliche Werbung um eine Frau ist. Drei völlig verschiedene Angänge, die komplettiert werden mit Stücken von Péter Nadás, Roland Schimmelpfennig und Grzegorz Jarzyna.
Koordiniert wird das Projekt von der Gruppe raumlabor berlin, die sich mit Architektur, Städtebau und künstlerischen Installationen im öffentlichen Raum beschäftigt. „Unsere Aufgabe ist es, eine Idee zu entwickeln, wie man die sechs Stücke miteinander verbinden kann“, sagt Jan Liesegang. Und zwar sowohl räumlich mit Bezug auf die Frage, welches Bild vom Ruhrgebiet entstehen soll; wie auch inhaltlich als Bestandaufnahme der europäischen Kultur. raumlabor berlin lassen die sechs Stücke an zwei Tagen abrollen und schicken den Zuschauer zwischen den Theaterbesuchen mit Schiff, Auto, Bahn oder zu Fuß auf eine Odyssee durch das Ruhrgebiet. Dabei soll nicht der alte Mythos vom Pott aufgewärmt werden, sondern ein Bild der Infrastrukturstadt mit ihren Netzen der Mobilität. Immer wieder werden kleine Szenen auf den Wegen, kleine Geschehnisse und Begegnungen den Blick öffnen für die alltägliche Realität des Ruhrgebiets, ob das die Straßen mit türkischen Hochzeitsgeschäften, Shopping Malls oder der Rhein Herne-Kanal ist. Thematisches Zentrum wird die Begegnung zwischen dem Gastgeber und dem Fremden sein, sagt Jan Liesegang; so sollen im Idealfall Theaterbegeisterte die Besucher bewirten und sie für eine Nacht aufnehmen. Das Ruhrgebiet sei schließlich selbst eine klassische Zuwanderergegend, ein Modell Europas im Kleinen. Am Ende, wenn Christoph Ransmayrs Stück in Dortmund die Reise beschließt, wird ein großes Festessen, sozusagen ein Gastmahl, diese „Odyssee Europa“ abschließen.
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