Heutzutage wird Finnland – wie auch andere nordische Länder – oft als Vorbild für gesellschaftliche und politische Progressivität in Europa betrachtet. Nehmen wir Frauenrechte: Mit Sanna Marin, Ministerpräsidentin Finnlands, wurde nicht nur eine Frau zum Staatsoberhaupt gewählt; sie ist auch der:die zweitjüngste Regierungschef:in weltweit, nach Chiles Präsident Gabriel Boric Font. Schon am 1. Juni 1906 führte Finnland als erstes europäisches Land das aktive und passive Wahlrecht für Frauen auf nationaler Ebene ein – über 10 Jahre bevor dies in Deutschland geschah und während Finnland, wenn auch praktisch weitgehend autonom, noch Teil des Russischen Kaiserreichs war. Auch als Bildungs- und Forschungsstandort ist Finnland vielgerühmt.
Doch das progressive Bild Finnlands verschleiert eine komplexe Geschichte russischer und schwedischer Besetzung, die die Gesellschaft bis heute prägen. Das zeigt sich zum Beispiel in der Sprache: Die offiziellen Amtssprachen Finnlands sind Finnisch (inklusive der Finnischen Gebärdensprache) und Schwedisch. Obwohl beinahe 90 Prozent der Bevölkerung Finnisch muttersprachlich sprechen und nur knapp über fünf Prozent Schwedisch als Muttersprache, ist das Land konstitutionell zweisprachig. Die Finlandssvenskar (schwedisch: Finnlandsschwed:innen), eine nationale Minderheit – ergo die schwedisch(sprachige) Bevölkerungsminderheit in Finnland – leben primär im Südwesten des Landes, meist an der Küste. Zumindest laut der Verfassung sind die beiden Gruppen gleichgestellt.
Über Jahrhunderte fremdbestimmt
Blickt man auf die Geschichte des Landes, so lassen sich einige Parallelen zur aktuellen Situation der Ukraine finden, die seit dem 24. Februar von Russland angegriffen wird. Aufrüstung ist in vielen Ländern wieder Thema, im eigenen Land oder in Form von Waffenexporten.
Schauen wir nun auf Finnland. Wird es heute vielfach als Vorreiter gesehen, so sah dies in Kriegs- und Besatzungszeiten anders aus – Finnland erlebte viele Jahrhunderte als Teil eines anderen Landes, in Besatzung, im Krieg und unter militärischer Aggression. Seit etwa dem 13. Jahrhundert wurde Finnland langsam aber stetig ein Teil von Schweden. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts wurde es nach dem Finnlandkrieg – ein Krieg zwischen Schweden und Russland um Finnland – Teil des russischen Reiches. Seit 1917 ist es offiziell unabhängig. Doch wie viele andere Länder erlebte es auch dann militärische Aggression und Manipulation, die Verbreitung von Falschinformationen.
Nato-Eintritt?
Ein konkretes Beispiel: 1939 wurde Mainila, eine russische Stadt nahe der Grenze zu Finnland, vermeintlich von Finnland überfallen. Heute sind Historiker:innen zu dem Schluss gekommen, dass dies ein vorgetäuschter Angriff des sowjetischen Innenministeriums war; damals fungierte es allerdings relativ erfolgreich als Casus Belli – als konkreter Auslöser und Grund – für den sowjetisch-finnischen Winterkrieg, denn ein Angriff finnischer Truppen auf eine russische Stadt wäre ein Bruch des Nichtangriffspakt zwischen den Ländern.
Finnland und Schweden, zumindest in der Zielsetzung wieder vereint, überlegen nun jeweils, in die Nato einzutreten, was in diesem Fall eine weitergehende Positionierung gegen Russland im aktuellen Russland-Ukraine-Krieg wäre. Konflikthafte, komplexe Geflechte zwischen den Ländern sind zumindest nicht so neu – oder lange her – wie manche zu glauben scheinen. Doch zeigt uns Finnland auch eins: Ein Land, das um seine Autonomie jahrzehntelang zu kämpfen hatte und starker militärischer Aggression ausgesetzt war, kann sich nicht nur erholen und wieder gleichauf mit anderen Ländern sein, sondern auch ein sozio-kulturelles Vorbild für progressive Politik.
ZEITENWENDE - Aktiv im Thema
tafel.de/themen/krieg-in-der-ukraine | Der Dachverband der deutschen Tafeln informiert auch in ukrainischer und russischer Sprache über Hilfsangebote.
der-paritaetische.de | Der Wohlfahrtsverband streitet für sozialpolitische Anliegen und berücksichtigt hierbei auch europäische Dimensionen.
caritas-international.de | Das Hilfswerk der deutschen Caritas informiert auch über Hilfsprojekte für die Ukraine und Möglichkeiten, selbst zu helfen.
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