In der Filmpalette geht es um einen Dokumentarfilm über Arbeit. Erst mal nichts Besonderes – ist Arbeit doch seit jeher eins der größten Themen des nichtfiktionalen Films. Dass „How to make a book with Steidl“ aber doch heraussticht, spürt man schon an der Zahl der Zuschauer. Dicht gedrängt sitzen sie in dem 70 Plätze fassenden Kinosaal der Filmpalette. Schon früh ist kein Sitz mehr frei. Es müssen Klappstühle her, die an der Seite aufgestellt werden. „How to make a book with Steidl“ eilt nicht nur bei aufmerksamen Beobachtern der Dokumentarfilmszene ein Ruf voraus, zumal er die goldene Taube auf dem DOK Leipzig und den Preis des Goethe-Instituts auf der Dokumentarfilmwoche in Leipzig abgeräumt hat.
Am 20. Juni beehrt Gereon Wetzel, einer der beiden Regisseure, die Filmpalette und nimmt sich Zeit für die Diskussion mit dem Publikum nach dem Film. Gereon Wetzel und Jörg Adolph haben ein Porträt des Verlegers und Druckers Gerhard Steidl gemacht, das sowohl seine Arbeit als auch die Künstler begleitet, die er betreut. Die Namen lesen sich wie das Who is Who der internationalen Fotografie- und Literaturszene: Joel Sternfeld, Martin Parr, Robert Frank, Monte Packham, Robert Adams, Nan Goldin, Jeff Wall und – auch im Film – Günter Grass. Der Zuschauer wird Zeuge, wie Grass mit Tusche den Schriftzug für eine neue Auflage seines Klassikers „Die Blechtrommel“ erneuert. Für Gerhard Steidl ist jedes Buch ein eigenes Kunstwerk. Der etwas kauzige Verleger trägt in seinem Göttinger Verlag mit angeschlossener Druckerei immer einen weißen Kittel – und wirkt damit vielmehr wie ein Apotheker. Während er in der einen Szene noch den Tintenfleck des ausgelaufenen Kulis in der Kitteltasche bestaunt, steht er im nächsten Bild neben Karl Lagerfeld auf der Pariser Fashion-Week. Handwerk und Glamour liegen hier ganz nah beieinander.
Das dokumentarische Verständnis von Adolph und Wetzel schließt sich an das in den 1950er Jahren in den USA entstandene „direct cinema“ an. Die Vorreiter Richard Leacock und Donn Alan Pennebaker nutzten die relativ neue und damals kostengünstigere Technik der 16mm-Kamera sowie die angeschlossene Möglichkeit der Aufnahme von Synchronton, um sehr viel Drehmaterial herzustellen und somit spontaner bei außergewöhnlichen Ereignissen dabei zu sein. Seitdem hat sich sowohl technisch als auch in den Konventionen des Dokumentarfilms viel geändert. Es wird digital gedreht: 16mm ist kaum noch zu finanzieren. Gewollte und ausgestellte Inszenierungen sind Teil von Dokumentarfilmen. Mit „How to make a book with Steidl“ besinnen sich die Filmemacher auf eine klassische Form des „fly-on-the-wall-“ oder „hit-and-run-Prinzips“ zurück – auch wenn sie natürlich digital drehen. Der Protagonist konnte aber zumindest finanziell Abhilfe schaffen, wie der Besitzer der Filmpalette Dirk Steinkühler einwirft. Steidl hat für die ursprünglich als Fernsehfilm geplante Dokumentation eine Filmkopie finanziert, deren Projektion auch das Publikum heute Abend genießen kann. Durch den Erfolg – so Wetzel – war das ein großer Wunsch der Filmemacher und eine Möglichkeit für engagierte Kinobetreiber, den Film weiter zu verbreiten. Steidl als „analoger Mensch“ hat es selbst vorgeschlagen – die Idee den Film für mehr als hundert Jahre verfügbar zu machen und archivieren zu können hat ihn gereizt.
Die Haltung und das Verhältnis der Filmemacher zum Protagonisten sind an diesem Abend im Fokus der Publikumsdiskussion. Wetzel beschreibt Steidl als „ein typisches Beispiel von einem mittelständischen Familienunternehmen, wo der Patron vom ersten Bogen bis zum fertigen Buch alles kontrolliert“. So wirkt er zeitweise wie ein Kontrollfreak – aber eben auch engagiert für die Kunst wie kein Zweiter. Da liegt die Kritik aus dem Publikum natürlich nah, die Mitarbeiter seien im Film nicht einbezogen. Wetzel aber betont die Funktion eines Porträts: Es geht vor allem um den Menschen Steidl und nicht nur um die Abläufe des Göttinger Verlags, in dem mittlerweile 45 Leute arbeiten. Lob bekommt der Filmemacher von einer Zuschauerin für die Bildsprache, die ebenso einem Bildband gleicht: schön fotografiert mit eigener Handschrift. Das gelte vor allem für die Reisebilder. Wetzel und Adolph wollten etwas Eigenes schaffen. Er nennt sie selbst „Schrabbelbilder“, die mit einer kleinen Fotokamera aufgenommen dem Film eine „eigene Materialität“ hinzufügen, die sich subtil vermitteln soll. Das gelingt wunderbar.
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