Dienstag, 13. Juni: Der Pole Stanisław Mucha ist bekannt für seine skurrilen Dokumentarfilme, in denen er gerne Menschen zu Wort kommen lässt, die in abgelegenen Ecken dieser Welt leben und sich oftmals gerade dadurch einen höchst eigenwilligen Charme bewahrt haben. International bekannt wurde er 2001 mit „Absolut Warhola“, einer Spurensuche nach Verwandten des Pop-Art-Künstlers Andy Warhol in der Slowakei. Gleichermaßen sehenswert ist auch „Die Mitte“, in dem sich der Filmemacher auf die Suche nach der Mitte Europas begab. In „Kolyma“ ist Mucha nun tief in den Osten Russlands eingetaucht, wo die gleichnamige Straße einst von Gulag-Häftlingen erbaut werden musste. Sie ist gesäumt von den Knochen und Überresten hunderttausender Strafgefangener, die dort verstarben oder hingerichtet wurden. In Köln erzählte der Regisseur, dass er schon immer mal nach Kolyma fahren wollte, seitdem er in einer Ausstellung in Berlin das Foto einer Kinderschaukel in einem Arbeitslager entdeckt hatte. Denn Muchas Großvater hatte diesem einst erzählt, dass er 1951 nach Kolyma verbannt worden war und dort am Bau einer solchen Schaukel beteiligt war. Stanisław Mucha geht es in „Kolyma“ nicht so sehr um die Geschichte dieser Region, er ist vielmehr an deren Ist-Zustand interessiert, die er in Gesprächen mit langjährigen Einwohner spürbar macht.
Nachdem er der Region einen ersten Besuch abgestattet, Interviewpartner gefunden und ein für einen Dokumentarfilm ungewöhnlich umfangreiches Drehbuch von 90 Seiten ausgearbeitet hatte, ging Mucha auf die Suche nach Geldgebern und Förderern. Als er die Finanzierung gesichert und nach Kolyma zum Filmen zurückfahren konnte, musste er feststellen, dass 70% seiner ausgewählten Gesprächspartner den überaus strengen Winter zuvor nicht überlebt hatten. So musste er die meisten Protagonisten für seinen Film neu zusammensuchen. Die Temperaturen vor Ort machten natürlich auch Muchas kleinem Filmteam zu schaffen: „Im Winter hatten wir im schlimmsten Fall -65° Celsius, im Sommer hingegen bis zu +40° Celsius. Hinzu kommen der Nebel und der Staub vor Ort, die einen zu einem ständigen Kampf mit der Materie und der Sauberkeit zwingen. Da bleibt kaum Zeit, um vor Ort einzelne Kameraeinstellungen zu diskutieren“, erläuterte Stanisław Mucha. Sein Chefkameramann Enno Endlicher, der ebenfalls in Köln Rede und Antwort stand, war deswegen ganz froh, dass „Rhythmus und Flow des Films bereits im Drehbuch vorgegeben waren“. Für ihn bestand die größte Herausforderung darin, sein Equipment am Laufen zu halten. Die Kamera musste gefettet und deren Akkus mit Heat Packs extra beheizt werden, damit sie in der Eiseskälte überhaupt funktionierten. Die Protagonisten des Films, die das Publikum zu so manchem Schmunzler oder herzhaften Lacher verleiten, haben Mucha und sein Team beim Drehen nicht ein einziges Mal zum Lachen gebracht. Den Humor der Szenen erkannte der Filmemacher dann erst später im Schnittraum, wo er die makabre Einstellung der Einwohner als deren Selbstschutzmechanismus erkannte.
Kolyma ist heute in erster Linie durch sein Edelmetallvorkommen bekannt. Jährlich werden dort mehrere hundert Tonnen Gold und Silber gefördert. Mucha vermutet, dass die zum Abbau eingesetzten Gifte (u.a. Quecksilber) dazu beitragen, dass viele der Anwohner dort langsam verrückt werden. Die Gegend sei mittlerweile ohnehin sehr dünn besiedelt, weswegen man schnell auf all die Paradiesvögel träfe, die seinen Film nun bevölkern. Mucha habe sich keine Gedanken darüber gemacht, ob diese einen repräsentativen Querschnitt des Ortes abgeben, seiner Meinung nach ist Kolyma einfach ein eigener Planet voller skurriler Figuren. Mucha und sein Team seien von den rund zehnwöchigen Dreharbeiten ebenfalls „gestört“ zurückgekommen. „Die fehlenden Farben im Winter, der allgegenwärtige Staub und eine Kompassnadel, die sich wild in sämtliche Richtungen bewegt – irgendetwas stimmt einfach nicht mit dieser Gegend“, sagte der Regisseur in der Filmpalette. Die Schaukel auf dem Foto in der Berliner Ausstellung fand Mucha für seinen Film dann tatsächlich auch noch. „Wenn ich sie nicht gefunden hätte, hätte ich sie selbst gebaut“, witzelte er beim Filmgespräch. Ab dem 21. Juni ist „Kolyma“ nun regulär in den Kinos zu sehen und wird im Rahmen der Kölner Kino Nächte Mitte Juli auch noch im Weißhauskino gezeigt.
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