Nun haben es die deutschen Karnevalisten endlich schriftlich: Sie sind Teil des immateriellen Kulturerbes in Deutschland. Das haben jetzt Experten entschieden. Deutschland hat sich lange geziert, der 2006 verabschiedeten UNESCO-Konvention zum Schutz von Kulturformen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, beizutreten. Vor zwei Jahren war es dann endlich so weit. Auch bei der Bundesregierung hatte sich eine Erkenntnis des Deutschlandliedes durchgesetzt: „Deutscher Wein und deutscher Sang sollen in der Welt behalten Ihren alten schönen Klang.“ Fast jedenfalls. Anstatt deutschem Wein wurden der Karneval und die deutsche Brotkultur gekürt, dazu die Reetdachdeckerei oder die Flößerei. Ein Fest für Anhänger des weiten Kulturbegriffs.
83 Anträge hatten die Brauchtumsforscher insgesamt vorliegen, aus denen es am Ende 27 kulturelle Traditionen auf die zunächst zu erstellende nationale Liste schafften. Neben Formen des Handwerks, die ein bisschen antiquiert wirken, sind vor allem Volksfeste verzeichnet. Außer der Lindenkirchweih oder den Festen der Sorben eben auch der Karneval. Neben den Rheinländern dürfen sich auch die Pfälzer gemeint fühlen. Also Alaaf und Helau. Und schließlich kommt auch die schwäbisch-alemannische Fastnacht nicht zu kurz: Inklusion ist das Stichwort. Und da gehören auch die Jecken südlich der Weißwurstgrenze dazu. Keiner soll sich am Ende ausgeschlossen fühlen, wenn es ums Kulturerbe geht.
Bei so viel sektiererischer und regional verorteter Teilzeitkultur platzt dem strengen Kulturafficionado dann doch der Kragen. Baumstämme ins Wasser werfen und Alaaf brüllen in allen Ehren, aber ein bisschen hochkulturiger darf‘s dann schon sein. Stroh auf Dächer packen mag zwar Ökofreaks und Touristen gefallen, aber man wird das Gefühl kultureller Artenrettung nicht ganz los. Als ob die Einrichtung von Feuchtbiotopen und Grünbrücken den kulturellen Handwerks- und Feierlurch vorm Aussterben bewahren soll. Getröstet wird man durch die Entscheidung, auch die gesamte deutsche Theater- und Orchesterlandschaft auf die Liste zu setzen. Inklusive Oberammergau, niederdeutscher Bühne und Modernem Tanz. Dass das deutsche Theater und Orchestersystem mit seiner ästhetischen, aber auch strukturellen Vielfalt weltweit einzigartig ist, dürfte sich herumgesprochen haben. Und wer einmal in einen Orchestergraben oder auf eine deutsche Opernbühne geschaut hat, weiß, dass dies auch Künstlern aus aller Welt zugutekommt, ganz zu schweigen von den Mitarbeitern hinter der Bühne. Angesichts der Finanzlage vieler Kommunen und Länder kann es helfen, dass die Vertragsstaaten sich verpflichten, „eine allgemeine Politik zu verfolgen, die darauf gerichtet ist, die Funktion des immateriellen Kulturerbes in der Gesellschaft aufzuwerten und die Erhaltung dieses Erbes in Programmplanungen einzubeziehen“. Das könnte sich auch im Zusammenhang mit dem TTIP-Abkommen auszahlen. Warum aber Ende März von Deutschland die Idee der Genossenschaft für die internationale Liste des immateriellen Weltkulturerbes bei der UNESCO eingereicht wurde, das bleibt noch lange ein Rätsel.
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