Dienstag, 31. Januar: Das Kurzfilmprogramm, das beim Dokumentarfilmfest Stranger than Fiction in Bochum und in der Kölner Filmpalette gezeigt wurde (Münster folgt), bestand aus zwei Projekten noch eingeschriebener Studenten der KHM. Als Gemeinsamkeit hatten sie einen jungen Protagonisten – der eine von Natur aus „strange“, der andere aus der Bahn geworfen von einer jener Tragödien, die jeden treffen können: dem Amoklauf in einer Schule in Winnenden am 11. März 2009. „Die Suche nach dem Plötzlich“ heißt das 23-minütige Werk von Jens Mühlhoff, das wie eine Collage eingefangener Momente daherkommt.
Der Junge, von dem man zunächst denkt, er würde gefilmt, filmt sich selbst, montiert den Film und spricht Gedanken aus dem Off hinein. Bald wird klar, es geht um das Vakuum nach einer Beziehung, die sich durch die Wucht des von der Freundin Viola miterlebten Ereignisses verändern, neu definieren oder auflösen muss – man kann nicht mehr einfach anknüpfen an Dinge, die vorher waren. Ein Gedankenaustausch im Off zwischen Junge und Mädchen liegt auf unruhigen, suchenden Bildern erhöhter Wahrnehmung und wechselnder Gefühlszustände. „Das Schönste ist das Schöne im Schlimmen“, sagt Viola über den neuen Zusammenhalt mit ihren Freunden. Er selbst hat es nicht miterlebt, kann nicht mithalten, hat mit inneren Dämonen zu kämpfen. Mühlhoffs Film dokumentiert ausschnitthaft eine Verarbeitung und Orientierungslosigkeit, ohne eine Doku zu sein.
Als er sich zum Gespräch mit Nina Borchers nach vorn begab, fiel aufmerksamen Zuschauern die frappierende Ähnlichkeit des KHM-Studenten mit seinem Protagonisten ins Auge, der hier viel Persönliches festgehalten hat. Über Winnenden sagt Jens Mühlhoff: „Man merkt das immer bei solchen Ereignissen: Wenn man den Ort kennt, wo das passiert, dann reicht das ja schon, dass man eine ganz andere Verbindung dazu hat.“ Da er über die Beziehung mit „Viola“, die in dem von Fernsehteams überfallenen Ort lebte, vieles mitbekommen habe, sei ihm klar geworden, „wie wenig davon in den Medien ein reales Bild davon ist“. Neben den von Ereignissen am schlimmsten betroffenen Menschen, die im medialen Fokus stehen und aktiv betreut werden, gebe es noch „viele Leute in den Reihen dahinter, die das aber auch irgendwie verändert“. Gegenüber choices sagte er, es sei ein „ganz ekeliges Gefühl“ gewesen, vor der Schule des Amoklaufs zu filmen, „als tue ich jemandem anderen Unrecht, der quasi in der ersten Reihe dieses Ereignisses stand“. Auch bei einem vorherigen Besuch ein halbes Jahr nach dem Ereignis sei ihm schon unheimlich gewesen.
„Der Film ist erstmal nachts im stillen Kämmerchen entstanden“, so Mühlhoff, „und ich habe ihn dann irgendwann ein paar Leuten gezeigt, um herauszufinden, ob es irgendeine Relevanz hat, das zu zeigen.“ Der Film sei fragmentarisch und erzähle nicht linear: „Es gab irgendwie das Material und die Notwendigkeit damit zu arbeiten.“ Das seien unter anderem Tagebucheinträge gewesen, die nicht unbedingt aus dem gezeigten Kontext stammten, ein „Video Diary“ aus der Zeit des Schneidens und das Filmmaterial, das er in Winnenden angefertigt habe. Später sei er noch einmal gezielt losgegangen, um Szenen zu drehen. Dabei halte sich der entstandene Film weniger an eine „Realität, die so passiert ist, sondern eine gefühlte Realität“, so Mühlhoff gegenüber choices, und versuche eigenes Erleben und die Gedanken der Freundin „im Kino verständlich zu machen“ – auch mit fiktionalen Elementen. Dafür habe er ohne Geld mit eigenen Geräten gedreht, denn es entstehe ein „Druck, dass es etwas werden muss, wenn man eine Kamera ausleiht und ein Projekt anmeldet“.
Wer ihm im Supermarkt begegnet, würde sicher Abstand halten und ihn für einen Spinner halten: Der 30-Minüter „Rebar“ von Julius Dommer nähert sich dem schnell irgendwie sympathischen Rebar aber andersherum. Der 19-jährige Kölner, der autistische Persönlichkeitszüge aufweist, wird in einer „Langzeitbeobachtung“ porträtiert. Er ist auf Zahlen fixiert und verbringt einen guten Teil des Tages mit Zwangshandlungen. So hat das Tacho seines Fahrrads, mit dem er durch Köln düst, eine übergeordnete Bedeutung für ihn, oder er rennt plötzlich wie auf der Flucht den Bürgersteig entlang oder nimmt in Geschäften abschätzend alle möglichen Waren in die Hand, ohne die Verwunderung der Menschen zur Kenntnis zu nehmen. Dabei wirkt er in anderen Momenten recht normal und reflektiert im Gespräch die Symptome seiner Erkrankung, die ihm das Leben schwer macht.
„Ich habe ihn über einen sehr guten Freund kennengelernt, der ihn einmal angesprochen hatte“, erklärt Dommer danach. Rebar habe zunächst nicht an die Möglichkeit einer Doku über ihn geglaubt, zumal eine Institution die Vormundschaft über ihn hat. Zugleich sei es ein monatelanger Annäherungsprozess gewesen. „Er ist extrem reflektiert, das ist ja auch das Spannende. Er weiß halt, dass er anders ist, kann aber auch nichts dagegen tun. Je mehr wir uns angenähert haben, desto mehr hat er mir dann auch Einblicke gegeben in sein Leben.“ Für den Film, sein erstes größeres Projekt an der KHM, habe Dommer zwar Konzepte gehabt, er sei dann aber samt des Kennenlernens über drei bis vier Monate frei umgesetzt worden und eigentlich „im Schnitt entstanden“. Das Festival präsentierte das faszinierende Doku-Kleinod, dem einige Preise zuzutrauen sind, als Weltpremiere.
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