Im Oktober 1995 trieb es die Satirezeitschrift „Titanic“ mal wieder herrlich bunt. Unter dem Titel: „Spielt Jesus noch eine Rolle?“ war ein Kruzifix neben einer Toilette zu sehen. Doch die Arme des Corpus waren nicht ans Kreuz genagelt, sondern bildeten einen Klopapierrollen-Halter. Die Kirche klagte und verlor – wie eigentlich immer, wenn es gegen das Satiremagazin ging.
Anlass für die Satire war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Kruzifixe in den Klassenräumen verboten hatte – so verstand es das „gesunde bayrische Volksempfinden“. Geklagt hatte bereits 19991 eine Familie, die eine weltanschaulich neutrale Erziehung ihrer Tochter wollte. Stein des Anstoßes war das Kruzifix gleich neben der Tafel. Die Eltern beschwerten sich beim Schulleiter, klagten schließlich, bekamen vor dem Verwaltungsgericht Regensburg aber kein Recht. Doch sie klagten weiter bis zum Bundesverfassungsgericht.
Das Bundesverfassungsgericht stützt sich in dem sogenannten Kruzifix-Urteil auf die negative Religionsfreiheit, also die Freiheit, eine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung abzulehnen. So heißt es in dem Karlsruher Beschluss, der mit fünf zu drei Stimmen gefällt wurde: „Die Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern überschreitet die Grenze religiös-weltanschaulicher Ausrichtung der Schule.“ Das Gericht entschied also nicht, dass die Kreuze abgehängt werden müssen, sondern erklärte lediglich die staatliche Anordnung zum Anbringen der Kreuze für verfassungswidrig.
Diese juristische Feinheit interessierte die 30.000, die im September 1995 dicht gedrängt auf dem Odeonsplatz in München vor einem vier Meter hohen Kreuz demonstrierten, natürlich nicht. Stattdessen hielten Bischöfe und Politiker flammende Reden. „Das Kreuz bleibt!“, lautete der Tenor, die Richter wurden von verschiedener Seite harsch kritisiert. Einmal mehr bewiesen Politiker, dass sie an der Unabhängigkeit der Justiz nur dann interessiert sind, wenn diese in ihrem Sinne entscheidet.
Edmund Stoiber, der damalige Ministerpräsident, machte schnell klar, in welche Richtung es nach dem Urteil in Bayern gehen würde: „Es darf nicht dazu kommen, dass eine kleine Minderheit immer und unter allen Umständen der Mehrheit vorschreiben kann, was diese in der Öffentlichkeit zu tun und zu lassen hat, meine Damen und Herren.“
Und in der Tat, Stoibers Regierung machte ernst. Bayern sollte das Urteil am Arsch vorbeigehen. Ein neues Landesgesetzt wurde auf den Weg gebracht: Die Kreuze sollten bleiben.„Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht“, heißt es in dem Gesetzesentwurf. Wenn Eltern der Anbringung eines Kreuzes aus „ernsthaften und einsehbaren Gründen des Glaubens oder der Weltanschauung“ widersprächen, müsse der Schulleiter nach dem Gesetz eine gütliche Einigung versuchen. Wenn dies nicht gelingt, müsse eine Abwägung den Konflikt lösen. Das bedeutet: Während die Karlsruher Richter festlegen, das Kreuz sei abzunehmen, wenn auch nur ein Kind oder Elternteil dagegen ist, stellt das bayerische Schulgesetz dagegen die Mehrheitsmeinung in den Mittelpunkt. Toleranz sollen aus Münchner Sicht eher die Minderheiten üben. Sowohl der bayrische Verfassungsgerichtshof, als auch später das Bundesverwaltungsgericht bestätigen die Argumentation.
Das Kruzifix-Urteil hatte die Gemüter erhitzt und eine wichtige Debatte zum Verhältnis von Staat und Kirche hervorgebracht. Vor allem aber einen der besten „Titanic“-Titel aller Zeiten.
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