Noch ist Ernst Adolf Steiger nicht in den Geschichtsbüchern verzeichnet. Der kürzlich verstorbene Versicherungsmathematiker zählt zu den großen Unbekannten, dem im Guinnessbuch der Obsessionen ein Platz gebührt. Die ganze Tragik seines Lebens wird aus einer austriakisch-deutschen Spannung heraus verstehbar: Die Mutter stammt aus der Steiermark, der Vater aus dem Pott. So war der junge Ernst Adolf zunächst Mitglied der Wiener Sängerknaben, was den Grundstein für ein späteres reiches kompositorisches Oeuvre legte. Kurz nachdem die Familie ins Ruhrgebiet gezogen war, starb der Vater bei einem Grubenunglück. Daraus entwickelte sich bei Steiger eine Leidenschaft für alles Montane. Monomanisch sammelte er Belege von Bergwerksunfällen und legte zugleich eine Sammlung mit Devotionalien der Heiligen Barbara an, der Schutzpatronin der Bergleute. Als „Charles Ives des Ruhrgebiets“ bezeichnet der Künstler Hans Peter Litscher diesen großen Unbekannten, dessen Spuren er in Rahmen des Festivals Theater der Welt in einer Ausstellungsinstallation erstmals präsentiert.
Litscher ist ein Geschichtenerzähler mit einer Vorliebe für Gestalten, deren Leben von einer Obsession geprägt ist. Der gebürtige Schweizer hat schon zahlreiche solcher Figuren entdeckt, neben Ernst Adolf Steiger auch den Aushilfs-Buchhalter und Konzeptkünstler mit Schwanentrauma Hugo F. Hunziker, den Vertreter der Welteislehre Hanns Hörbiger oder den Forellenturbinen- Erfinder Viktor Schauberger. Wahr oder erfunden? Darum geht es nicht. „Mich interessiert, wie Erinnerung zustande kommt und wie aus Geschichten Geschichte wird“, sagt Litscher beim Gespräch in Essener Café Central. Wie oft und gut müsse man eine Geschichte erzählen, damit sie am Ende geglaubt wird? So verfügt sein Heimatland über zahlreiche Nationalhelden, deren Existenz „nur“ durch gut erzählte Legenden beglaubigt sei. Die Rede kommt auf Freuds Notiz vom „Wunderblock“ als Bild der seelischen Wahrnehmung und landet prompt bei einer Geschichte über Freuds Zahnarzt. Kaum eine Frage, die Litscher nicht mit einer Anekdote beantwortet, die gesättigt ist mit Historie, aber nie ganz in ihr aufgeht. Ob er in Tanger bei Paul Bowles war oder am New Yorker Flughafen, wo er wegen Terrorismusverdachts befragt worden und wie Prinzessin Scheherazade um sein Leben erzählt haben will. Litscher ist kein Hochstapler, sondern ein Spurensammler, der das Leben mit seinen Möglichkeiten kurzschließt. Die Spur, so heißt es bei dem französischen Philosophen Jacques Derrida, ist das „Ur-Phänomen des Gedächtnisses“. Solche Spuren zum Leben von Ernst Adolf Steiger – von Barbara-Devotionalien bis zu Kompositionen – präsentiert Hans Peter Litscher in seiner performativen Installation „¡Barbara – Rabarbara!“ in Mülheim. Daneben wartet das Festival Theater der Welt mit einem bunten theatralen Querfeldein auf, vom polnischen Shootingstar Kornél Mundruczó über den samoanischen Choreografen Lemi Ponifasio bis zu einem theatralen Blockbuster vom Staatstheater Pretoria. Drei Wochen Welttheater im Rahmen von RUHR.2010, bevor das Ruhrgebiet und seine Theater auf Diät gesetzt werden.
Theater der Welt I 30.6. bis 17.7. I Essen und Mülheim Hans Peter Litscher: Villa Rauen Mülheim, Felsenstr. 92 I 2.-11.7. 0201 812 22 00
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