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Die große, alte Seltene Erde

25. November 2020

Die Mächtigste von uns allen ist unser Planet. Und seine Rache wird grausam sein – Glosse

„Seit Äonen von Jahren schläft, fest eingegraben in den felsigen Mantel dieses Planeten, Lanthan. Ihm gleich tun es Cer und die beiden Brüder Praseodym und Neodym mit ihrer silbrig schimmernden Haut. Sie sind nicht weit, sie liegen geradezu unter unseren Füßen. Lange blieben sie unentdeckt, doch heute wissen wir: Sie liegen, sie lauern unter sächsischem Boden. Und wir ahnen: Sie sind mindestens 20.000 Tonnen schwer. Sie haben unglaubliche Kräfte. Lanthan verhilft uns, Dinge zu sehen, die uns sonst verborgen geblieben; Neodym zieht Gegenstände in seiner Nähe magisch an und lässt wilde Klänge ertönen, es macht unsere engsten Gefährten erzittern und uns grelle Farben sehen. Doch sie an die Oberfläche zu bringen und uns zu Nutze zu machen, erfordert einen hohen Preis …“

„Jetzt hören Sie mit diesem Lovecraft-Horror-Mist auf, Altmann! Sagen Sie mir einfach, wie es mit der Förderung Seltener Erden in Deutschland aussieht.“

„Also gut.“ Altmann räuspert sich. „Es gibt da dieses Vorkommen von Seltenen Erdelementen in der Nähe von Leipzig. Lanthan gibt es dort, das für teure Brillengläser und andere Linsen verwendet wird, und Neodym für Magnete und Lautsprecher sowie für Handydisplays und -vibrationsmotoren. Außerdem Cer, Praseodym und Europium. Wir vermuten dort 20.000 Tonnen Erz, allerdings lohnt sich die Förderung kaum. Die Konzentration der Elemente im Erz ist zu gering. Außerdem, Sie wissen schon, die laufenden Kosten für Maschinen, Personal und Sicherheit sind in Deutschland …“.

„Ja, ja, alles klar“, winkt der Boss ab. „Dann bleiben wir bei unserer Beteiligung an den Bergwerken in China.“

„Aber was ist mit den Arbeitsbedingungen, mit den Menschen dort?“

„Was soll mit denen sein?“, fragt der Boss und setzt ein unschuldiges Gesicht auf, während er etwas in seinen Computer tippt. Als daraufhin auf der Leinwand Bilder von luxuriösen shopping malls, mondänen Einkaufsstraßen und futuristischen Skylines aus Schanghai, Peking und Guangzhou erscheinen, fährt er mit unverhohlen sarkastischem Tonfall fort: „Können Sie sich vorstellen, dass in einem Land, wo die Leute samstags mit dem Transrapid zum Shoppen bei Louis Vuitton und Dior fahren, die Rohstoffe mit Schubkarren aus mit Giftgas gefüllten Stollen gefördert werden?“

„Nun …“, setzt Altmann an.

„Sehen Sie, ich auch nicht“, fällt ihm der Boss ins Wort. „Außerdem halten wir uns aus dem Kobaltgeschäft raus. Kobalt, sagen wir, kommt ja aus Afrika. Und Afrika …“, sein Tonfall fiel ins Schmierenkomödiantische, „Mensch, Afrika, das ist schlimm! Die Minen allein, dann die Dürren, und wenn es doch mal regnet, dann überschwemmen die Schächte, aber die Leute müssen trotzdem da rein. Nein, ich segne nicht die Regen da unten in Afrika!“

Altmann widerspricht nicht. Zum einen, weil er seinen Boss (vollkommen zu Recht) dafür bewundert, so geschickt ein Zitat von Toto, der ja wohl mal besten Band der Welt, in seinen Monolog einzubauen.

Zum anderen, weil er so richtig auch nicht weiß, was in China so vor sich ging. Es ist nicht so einfach. Journalisten lassen sie dort nicht rein in ihre Minen. Außerdem kommt Altmann sich wie ein Heuchler vor, wenn er mit einem Computer oder einem Handy recherchiert, warum die Förderung von Rohstoffen für die Computer- und Handyproduktion böse ist.

Zum Dritten, denkt er sich, sei der Begriff „Seltene Erden“ ohnehin gar irreführend, denn so selten seien sie gar nicht. Also sei es auch kein Raubbau an knappen Ressourcen, was sie da mitverantworten. In Russland, da hauen sie gar nicht so seltene Erden aus dem Boden: Steinkohle. Dabei fahren sie nach dem Motto „Mining like it’s 1923“, also was Technik, Arbeitsbedingungen, Lohn, Sicherheit und Arbeitnehmerrechte angeht. Und die Häufigkeit von Grubenunglücken. Da sagt ja auch keiner was gegen die Abbaubedingungen, wenn wir mit dieser Kohle unsere Lichter brennen und Herde heiß werden lassen.

Altmann atmet tief durch und tut etwas sehr, sehr Menschliches: Er fasst seine Gedankenfetzen zusammen mit „Scheiß drauf“ und verlässt das Büro.

Über die eigene Daseinsfrist hinaus zu denken, ist nicht allzu menschlich. Es ist nahezu übermenschlich, sich bewusst zu machen, dass es da wirklich etwas gibt, das schläft und das lauert und das immer gereizter reagiert auf unsere Taten. Es reagiert mit Orkanen und Stürmen, mit Dürren und Überschwemmungen, mit Hitze und Schmelze. Und wir nehmen es hin, wie der Frosch, der nicht aus dem Becken flüchtet, weil er gar nicht mitkriegt, wie das Wasser immer heißer wird, bis er schließlich zerkocht.

Denn es gibt sie doch, die Seltene Erde. Und sie ist groß und sie ist alt und sie ist die einzige, die wir haben.


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Marek Firlej

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