choices: Herr Bußmann, an Kölns drittgrößter Innenstadtkirche, St. Michael am Brüsseler Platz, ist seit einiger Zeit ein interessantes Phänomen zu beobachten: Sie ist oft bis spät in den Abend geöffnet. Wie kommt das?
Klaus Werner Bußmann: Wir standen vor der Frage: Wie können wir die Kirche, die nur noch für Gottesdienste geöffnet wurde, an das Viertel zurückgeben? Schließlich ist der viel frequentierte Brüsseler Platz eigentlich unser Kirchvorplatz. Diesen Gegensatz – pulsierendes Leben vor verschlossener Kirche – wollten wir auflösen.
Vor dem Hintergrund schrumpfender Innenstadtgemeinden ein ambitioniertes Vorhaben. Wie sind Sie vorgegangen?
Im ersten Schritt ging es uns darum, die Kirche in einem ganz wörtlichen Sinne wieder zu öffnen. Dafür braucht man Personal, und wir haben intensiv nach Unterstützern in der Gemeinde gesucht. Dank vieler Ehrenamtlicher sind wir heute in der Lage, die Türen von St. Michael täglich zu öffnen und die Kirche als spirituellen Ort auch außerhalb der Gottesdienste erlebbar zu machen.
Aufgesperrte Türen allein machen eine Kirche noch nicht wieder lebendig. Hilft da ein Kunst- und Kulturprogramm wie „Art & Amen“?
Wie in anderen katholischen Kölner Gemeinden hat man hier die vorherrschenden Gruppen analysiert. Dabei kam raus, dass wir es im Belgischen Viertel vor allem mit zwei modernen Milieus zu tun haben: mit „Experimentalisten“ und „Modernen Performern“ – neugierige und gut situierte Trendsetter, die vieles ausprobieren, aber auch erfolgreich gestalten. Die wollen von allem etwas! Wie kann man da als Kirche anknüpfen? So entstand die Idee, eine Plattform für Kunst in diesem Stadtteil zu schaffen, die sich am Bedürfnis der Menschen orientiert, also auch abends präsent ist, wenn die Leute da sind und Zeit haben.
Wer trägt das Programm organisatorisch und finanziell?
Wir haben mit Anwohnern, Gastronomen, Geschäftsleuten und vor allem Künstlern des Viertels Formate entwickelt, die für die Menschen hier interessant sein können – Konzerte, Filmabende, Videoperformances, Lesungen usw. Dieses Jahr trägt sich das Ganze weitgehend selbst. Aber Werbung etc. läuft über die Gemeindekasse.
Einer großen Kirche wie St. Michael muss es doch auch darum gehen, das Gemeindeleben aktiv zu gestalten, um nicht existenziell in Frage zu stehen?
Es geht darum, dass innerstädtische Kirchen für ihre Gemeinde weiterhin eine Rolle spielen, aber nicht vor dem Hintergrund, dass katholische Kirchen ansonsten geschlossen würden.
Kann man Menschen damit wirklich in die Kirche zurückholen?
Man kann ein anderes Bild von Kirche vermitteln, was heute wichtig ist. Dabei geht es erst mal nicht um die Liturgie. Wir wissen: Ein Bedürfnis nach Spiritualität ist nach wie vor da, aber gerade die Jungen können – verständlicherweise – mit der Liturgie oft nichts mehr anfangen. Wir hören von den Leuten, dass es toll ist, dass die Kirche so ein Programm bietet, dass sie jetzt auch abends mal offen ist und man einfach reingehen und zur Ruhe kommen kann.
Sie waren lange Seelsorger in der rechtsrheinischen Gemeinde St. Adelheid. Dort standen Sie in der Regel vor gut gefüllten Kirchenbänken und hatten es mit einer regen Gemeinde zu tun. Vermissen Sie das gelegentlich?
Nein, aber natürlich ist das hier eine andere Art von Gemeindearbeit. Klassischerweise ist die ja auf die Nachhaltigkeit von Begegnungen und ein wachsendes Miteinander angelegt. Das ist hier anders. Ich führe viele interessante Gespräche bei unseren Veranstaltungen und auch intensive seelsorgerische Gespräche. Die meisten Menschen sehe ich aber danach nicht wieder. Dieses Passantentum, der Durchlauf, die mangelnde Kontinuität ist etwas, an das man sich auch gewöhnen muss.
Wird es irgendwann auch in den Innenstädten wieder ganz klassische Gemeindearbeit geben?
Das glaube ich eigentlich nicht. Es ist wichtig, sich den neuen Bedürfnissen von Menschen als Kirche zu öffnen. Ich denke, wir werden in Zukunft noch projektbezogener arbeiten und uns als Kirchengemeinden stärker profilieren müssen. Das ist ja auch das Ziel der Pastoralkonzepte, zu deren Entwicklung alle katholischen Seelsorgebereiche des Erzbistums aufgefordert sind.
Heißt das nicht auch, eine Art von Konsumdenken zu bedienen?
Nicht, solange sich die Arbeit im Rahmen dessen bewegt, was einer Kirche als spirituellem und sakralen Ort entspricht. Wir sind deshalb bei „Art & Amen“ durchaus wählerisch. Wir experimentieren, aber wir wollen schon, dass die Kirche Kirche bleibt. Dazu muss die Kunst passen – da unterscheiden wir uns vielleicht auch von der Position der evangelischen Kirche.
Haben Sie Restriktionen „von oben“ zu befürchten, wenn Sie bestimmte Grenzen vermeintlich überschreiten?
Bisher ist da nichts gekommen. Ich würde dann allerdings auch die Sinus-Studie zücken. Damit haben wir uns in sehr arbeitsintensiven Prozessen nun jahrelang auseinandergesetzt. Da muss man jetzt auch Experimente zulassen.
Für das Erzbistum Köln gilt die Maxime, dass katholische Kirchen als „Tafelsilber“ unbedingt zu erhalten sind und nur für ausgewählte kirchennahe Nutzungen zur Verfügung stehen dürfen. Könnte eine katholische Kirche auch als Gebetsstätte für Muslime dienen?
Für mich persönlich wäre das denkbar, weil es ja eine religiöse Nutzung bliebe. Soweit ich das sehe, besteht hier aber von Seiten der Muslime gar kein großes Interesse an christlich geprägten Gebäuden. Und natürlich gibt man durch eine solche Fremdnutzung auch etwas Kulturstiftendes auf in seiner Stadt. Das muss man sich schon genau überlegen.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Bevor wir noch mal eine Kirche verkaufen, denken wir sehr gründlich nach“
Pfarrer Mathias Bonhoeffer über den Umbau der Christuskirche und die Herausforderungen innerstädtischer Gemeindearbeit - Thema 08/12 Kirche im Wandel
„Früher wurde in den Kirchen auch getanzt“
Hiltrud Kier über die Normalität von Zwischennutzungen christlicher Kirchenräume - Thema 08/12 Kirche im Wandel
Mission possible?
Wie Kölner Kirche(n) im Jahr 2012 ihre Schäfchen ins leere Gotteshaus holen - THEMA 08/12 KIRCHE IM WANDEL
„Ein Überbietungswettbewerb zwischen den EU-Staaten“
Teil 1: Interview – Migrationsforscherin Leonie Jantzer über Migration, Flucht und die EU-Asylreform
„Die Kategorie Migrationshintergrund hat Macht“
Teil 2: Interview – Migrationsforscher Simon Moses Schleimer über gesellschaftliche Integration in der Schule
„Es braucht Kümmerer-Strukturen auf kommunaler Ebene“
Teil 3: Interview – Soziologe Michael Sauer über Migration und Arbeitsmarktpolitik
„Früher war Einkaufen ein sozialer Anlass“
Teil 1: Interview – Wirtschaftspsychologe Christian Fichter über Konsum und Nostalgie
„Nostalgie verschafft uns eine Atempause“
Teil 2: Interview – Medienpsychologe Tim Wulf über Nostalgie und Politik
„Erinnerung ist anfällig für Verzerrungen“
Teil 3: Interview – Psychologe Lars Schwabe über unseren Blick auf Vergangenheit und Gegenwart
„Viele Spiele haben noch einen sehr infantilen Touch“
Teil 1: Interview – Medienpädagoge Martin Geisler über Wandel in der Videospiel-Kultur
„Genießen der Ungewissheit“
Teil 2: Interview – Sportpädagoge Christian Gaum über das emotionale Erleben von Sportevents
„Ich muss keine Konsequenzen fürchten“
Teil 3: Interview – Spieleautor und Kulturpädagoge Marco Teubner über den Wert des Spielens
„Die Bürger vor globalen Bedrohungen schützen“
Teil 1: Interview – Politikwissenschaftler Oliver Treib über Aufgaben und Zukunft der Europäischen Union
„Mosaik der Perspektiven“
Teil 2: Interview – Miriam Bruns, Leiterin des Goethe-Instituts Budapest, über europäische Kultur
„Der Verkauf des Kaffees nach Europa ist gestoppt“
Teil 3: Interview – Sebastian Brandis, Sprecher der Stiftung Menschen für Menschen, über das EU-Lieferkettengesetz
„Tiefseebergbau ohne Regularien wäre ganz schlimm“
Teil 1: Interview – Meeresforscher Pedro Martinez Arbizu über ökologische Risiken des Tiefseebergbaus
„Wir müssen mit Fakten arbeiten“
Teil 2: Interview – Meeresbiologin Julia Schnetzer über Klimawandel und Wissensvermittlung
„Entweder flüchten oder sich anpassen“
Teil 3: Interview – Klimaphysiker Thomas Frölicher über ozeanisches Leben im Klimawandel
„Es liegt nicht am Gesetz, Kriminalität zu verhindern“
Teil 1: Interview – Kriminologe Dirk Baier über Gewaltkriminalität und Statistik
„Prüfen, ob das dem Menschen guttut“
Teil 2: Interview – Publizist Tanjev Schultz über ethische Aspekte der Berichterstattung über Kriminalfälle
„Eltern haben das Gefühl, sie müssten Buddhas werden“
Teil 3: Interview – Familienberaterin Nina Trepp über das Vermeiden von psychischer Gewalt in der Erziehung
„Ernährungsweisen verändern, ohne Zwang“
Teil 1: Interview – Tierethikerin Friederike Schmitz über vegane Ernährung
„Naturschutz wirkt“
Teil 2: Interview – Biologin Katrin Böhning-Gaese über Biodiversität, Wildtiere und Naturschutz
„Sie verstehen uns“
Teil 3: Interview – Tierhistorikerin Mieke Roscher über die Beziehung zwischen Menschen und Tieren
„Was nicht erlaubt ist: Druck ausüben“
Teil 1: Interview – Autor Sebastian Schoepp über Freundschaften