Auf die Frage, was ihm die Musik von Johann Sebastian Bach bedeute, antwortet Alain Platel: „Einfach alles“. Es folgt ein kurzes Lachen, mit dem er zu beschwichtigen versucht angesichts der pathetischen Antwort. Doch dann sagt er, dass in der Musik des Thomaskantors sich alle Gefühle wiederfinden lassen, die ein Mensch überhaupt nur haben kann. Bisher ist Platel, der 1984 in Gent sein Ballet C. de la B. gründete, in seinen Tanzabenden allerdings sehr sparsam mit den Kompositionen Bachs umgegangen. Für ihn eine Frage des Respekts. Es überrascht aber auch nicht, dass er dann mit „Iets op Bach“ 1998 seinen Durchbruch erlebte. Jetzt bringt Platel bei der Ruhrtriennale seine Choreographie „pitié! Erbarme dich!“ nach Bachs „Matthäuspassion“ zur Uraufführung.
Eher überraschend, dass er ein Werk mit linearem Handlungsverlauf gewählt hat, dem der Abend auch weitgehend folgt – auch wenn Platel hofft, dass die Zuschauer eher der Dramaturgie der Emotionen folgen. Weniger überraschend, dass der Choreograph sich einem sakralen Werk widmet. Ist es doch immer wieder das Oszillieren zwischen Religiösem und Profanem gewesen, wie man es aus Filmen Pasolinis kennt, das sein Werk so faszinierend macht. Platel betreibt dabei ethnologische Feldforschungen im Emotionslaufstall des globalisierten Subjekt. So hatte er zuletzt bei seinem Monteverdi-Projekt „vsprs“ der menschlichen Sehnsucht nach Gemeinschaft und Ekstase nachgespürt.
Nicht zuletzt ist auch Bachs 1627 in Leipzig uraufgeführte „Matthäuspassion“ als genuin bürgerliches und originäres Kunstwerks zu verstehen. Trotz seines sakralen Ursprungs wurde es außerhalb des liturgischen Zusammenhangs in einem geistlichen Konzert aufgeführt und bewies damit seine Eigenständigkeit. Ästhetisch ging die Passion mit ihrer Affektdarstellung, der realistischen Dramatik und Leidenschaft weit über das damals Gewohnte hinaus. Der Musiker Fabrizio Cassol hat jetzt eine komprimierte Fassung für Sopran, Mezzosopran und Countertenor sowie ein kleines Orchester aus Saxophon, Bassgitarre, Akkordeon, Trompete, Violine, Cello und Flöte erstellt. Während die Sänger die „schreckliche Geschichte des Leidens und des Schmerzes“ erzählen, versteht Platel die Tänzer als Resonanzkörper, die auf die Passion reagieren, Einspruch erheben oder das Erzählte mitempfinden. Die zentrale Emotion des Stücks sei das Mitleid. Der Choreograph zitiert einen Satz des Dalai Lama, wonach das Mitleid der Radikalismus unserer Zeit ist. In einer Welt, in der jeder nur dem Druck unterliegt, mit seinen Schwierigkeiten alleine fertig zu werden, sei dieses Gefühl sehr selten. Für Platel ist die Matthäuspassion mit ihrer Geschichte vom Leiden Christi das Brennglas, in dem Mitleid als zeitgenössische Erfahrung wieder erlebbar gemacht werden kann.
Ruhrtriennale, 3./4./6./7. September, Jahrhunderthalle Bochum,
Karten: 0700 20 02 34 56, www.ruhrtriennale.de
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