choices: Frau Palmer, gibt es Fundamentalismus in jeder Religion?
Gesine Palmer: Wenn wir bei einem weiten Fundamentalismus-Begriff bleiben, auf jeden Fall. Ich selbst spreche seit einigen Jahren eher von einer Internationale der religiösen Reaktionen, weil der Begriff Fundamentalismus den betreffenden Strömungen zu viel Kredit gibt. Denn das, was sie für die Fundamente der Religion halten, sind ja nicht zwingend die Fundamente der jeweiligen Religion.
Der Begriff Fundamentalismus wurde in Bezug auf christliche Evangelikale geprägt, die seit mehr als 100 Jahren erreichen wollen, dass im schulischen Biologieunterricht nicht die Entwicklungslehre Darwins gelehrt wird, sondern die biblische Schöpfungslehre: Dass Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen hat – so wie es in der Bibel steht. Die biblische Schöpfungserzählung soll also in einem modernen Sinne Tatsachen beschreiben? Das ist selbst bereits eine bestimmte, und zwar durchaus eine moderne Auslegung der biblischen Geschichte. Die Bibel, die solche Geschichten erzählt, mag das Fundament der christlichen Religion sein. Aber sie im Sinne eines biologisch validen Tatsachenberichts zu verstehen, das ist Auslegung. Und zwar eine sehr ängstliche. Darin zeigt sich das ganze reaktionäre Moment.
„Verlustängste, die man legitim oder nicht legitim finden kann“
Was sind die Motive?
Fundamentalismus ist der Versuch mit sehr einfachen Unterscheidungen, von gläubig und nicht gläubig, darauf zu reagieren, dass in der Moderne die Religionen und ihre Beziehungen zu nicht religiösen Moralsystemen etwas komplexer geworden sind. Die Reaktion ist dogmatische Verhärtung. Meist sind das sehr konservative Strömungen, die erheblich mehr gemeinsame Merkmale haben als Unterschiede: strikt patriarchale Lebensordnungen, in denen sich alles um ein männliches, heterosexuelles Familienoberhaupt dreht. Das gibt es in jeder Religion bis hin zum Buddhismus. Sogenannte Fundamentalisten verteidigen in erster Linie meist ganz archaische Sozialordnungen. Alles, was man in der Moderne glaubt, ertragen zu können Homosexualität, selbstbestimmte Lebensweisen von Frauen, religiöse Vielfalt, gar ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Religionen und nichtreligiösen Lebensweisen, nehmen sie als beängstigend wahr. Zunächst sind es also meist Verlustängste, die man legitim oder nicht legitim finden kann. Gegen gefühlt drohenden Verlust der Gruppenidentität wird eine reine Lehre aufgebaut, die dann mit ziemlich drastischen Maßnahmen, nach innen und nach außen, durchgesetzt wird. Nur unbedingte Loyalität zu den Oberhäuptern und Gehorsam gegenüber sehr strengen Lebens- und Glaubensregeln sollen helfen.
„Was dort gemacht wird, wirkt sich in der Tat bis in die westlichen Gesellschaften hinein aus“
Wie sehr kann fundamentalistisches Denken in das gesellschaftliche Leben hineinwirken?
Nehmen wir zwei Beispiele aus dem Nahen Osten: Obwohl in Israel die Ultraorthodoxen nur 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, haben sie mit ihren schroff religiösen Forderungen großen Einfluss darauf, wie das Alltagsleben in Jerusalem aussieht, z.B. dass am Shabbat alles geschlossen ist.
In den islamistischen Ländern wird der Islam zunehmend konservativer interpretiert. Zu den Vorgängen im Iran 1979 finden Sie immer noch viel Bildmaterial im Internet: Als Frauen plötzlich Kopftücher tragen sollten, wie sie versuchten, sich dagegen zu wehren, und wie unendlich gewaltsam ihre Proteste beendet wurden. Inzwischen versuchen dort wieder viele Frauen, sich etwas mehr Freiheit zu erarbeiten. Aber selbst in Bildungsinstitutionen steht ihr eigener Zugang zur Öffentlichkeit nach wie vor unter harten Restriktionen. Was dort in sehr undemokratisch organisierten Gesellschaften gemacht wird, wirkt sich in der Tat bis in die westlichen Gesellschaften hinein aus. Iran oder Saudi-Arabien sind natürlich besonders harte Extreme. Doch es gilt auch für die Türkei und die türkischstämmigen Menschen, die hier bei uns leben. Durch eine zunehmend reaktionäre, patriarchalische Auslegung der islamischen Religion geraten Frauenrechte immer mehr ins Hintertreffen, und Frauen werden immer stärker wieder einer erbarmungslosen Tugendregel und der Aufsicht ihrer Clans unterstellt. Dabei ist die „fundamentalistische“ Auslegung der Quellen vermutlich nicht näher an ihrem religiösen „Fundament“ oder „Kern“. Vielmehr orientiert sich die reaktionäre Interpretation der eigenen Tradition am archaisch strukturierten Clan-Prinzip. Als Clan bezeichne ich nach innen sehr harte und nach außen sehr aggressive Gruppierungen, die sich subjektiv in einem Existenzkampf fühlen und diesem alles unterordnen.
„Wo für etwas gestorben wird, braucht man eine höhere Motivation“
Kann Terrorismus religiös motiviert sein?
Klar. Zur reaktionären gehört in der Aktion eine hochaggressive Haltung. Feinde werden eher gesucht als gemieden. Man braucht das Feindbild, um die schroffen, reaktionären Züge nach innen aufrecht zu erhalten. Wer vor Feinden schützt, hat recht. Wie immer sie entstanden sein mag: Die Gesamtsituation in einem Land wie Afghanistan wird verständlicherweise als chaotisch empfunden. Die Menschen suchen entsprechend oft nach einfachen Kriterien, um sich zu ordnen, ihrem Leben eine Art Sinn zu geben und ihrem Kampf eine Motivation. Wo für etwas gestorben wird – für die eigene Familie, das eigene Dorf, die eigene Stadt, das eigene Land – braucht man eine höhere Motivation, und die Religion kommt ins Spiel. Wenn sich das weiter verselbstständigt und verschärft, kann es natürlich auch in den Terrorismus führen.
Wie sehen Sie die Lage in Afghanistan in puncto Bildung?
Die Bildung ist eine Art Kampfzone. Hier geht es immer um die Frage, wie viel die Untergebenen wissen dürfen und wie viel diskutiert werden darf. Ich sehe nicht, dass die Probleme in Afghanistan anders wären als in anderen islamistischen Ländern oder in den kreationistischen christlichen Sekten. In der wirklichen Struktur dessen, was man als Fundamentalismus bezeichnet, ist es überall gleich. Die Untergebenen sollen eine bestimmte Lehre lernen – und anderes nicht lernen. Nur das garantiert weiterhin Gruppenidentität und Gehorsam gegenüber den Oberhäuptern.
„Im vermeinten Existenzkampf spielen Kategorien wie „Verrat“ eine viel größere Rolle“
Warum ist die Hemmschwelle so groß, in die kritische Auseinandersetzung zu gehen?
Vielleicht ahnen die Oberhäupter, die ja inzwischen überall von den Lebensweisen der Moderne wissen können, dass ihre Herrschaft ungerecht und nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Dadurch fühlen sie sich schroff bedroht – und bedrohen entsprechend schroff alle „Abweichler“. Die Idee, dass jeder Mensch gleichunmittelbar zur Öffentlichkeit sein könnte, würde ihnen ja die Macht nehmen. Also bestehen sie darauf, dass man Dinge intern regelt. Im vermeinten Existenzkampf spielen Kategorien wie „Verrat“ eine viel größere Rolle. Wer sich mutiger äußert, muss damit rechnen, als Verräter zu gelten. Das ist wiederum mehr als lebensgefährlich: es zieht zumeist irgendeine Art von Folter – sozial oder körperlich – nach sich. Wieder glaube ich nicht, dass so eine Herrschaft in den Fundamenten irgendeiner bestimmten Religion verankert ist. Sogenannte Ehrenmorde haben wir auch unter christlichen Palästinensern. Es hat weniger mit der religiösen „Substanz“ oder den „Fundamenten“ von Islam und Christentum zu tun, und mehr mit den kulturellen Gepflogenheiten sowie der Organisation der Gesellschaft in diesen Clan-Strukturen. Dabei muss man fairerweise sagen: auch solche Strukturen sind nicht allesdurchdringend. Etwas wie individuelle Freundschaft, individuelles Denken und individuelle Liebesbeziehungen gibt es überall. Doch ist das sehr stark erschwert, weil diese Gemeinschaften so rigoros den Kontakt zur Öffentlichkeit außerhalb ihrer Gemeinschaftsgrenzen verweigern, kontrollieren und moralisieren.
„Religion darf nur soweit gehen, dass sie die Freiheiten der Menschen nicht einschränkt“
Wie weit darf Glaube gehen?
Das Problem mit den religiösen Reaktionären ist, dass sie gar kein außerhalb ihrer Religion liegendes Moralsystem anerkennen. Liberale Europäer*innen gehen davon aus, dass es gut und richtig ist, wenn das Gewaltmonopol bei einem Staat liegt. Sie akzeptieren die Schulpflicht und versuchen, die Wertordnung ihrer Herkunftsfamilien mit der staatlichen Ordnung konstruktiv auszubalancieren.Religiös Reaktionäre nehmen eine an individuellen Menschenrechten orientierte Wertordnung als externe Bedrohung wahr und erkennen sie nicht an.Das ist ein ganz großes Problem. Als überzeugte Demokratin und Bundesbürgerin kann ich sagen, Religion darf nur soweit gehen, dass sie die Freiheiten der Menschen nicht einschränkt. Sie muss zurückstehen, wenn die Rechte irgendeines Individuums gefährdet sind. Ein anderes, überreligiös fundiertes System wie die Verfassung sollte das idealerweise sicherstellen. Wenn aber Ayse von nebenan zwangsverheiratet werden soll, dann will die Familie ihr weniger Rechte geben als der Staat. Die Religion darf hier nicht so weit gehen, dass jemand wegen irgendwelcher Clan-Prioritäten von Ausbildung und dem Recht auf individuelle Entscheidungen ausgeschlossen wird. Menschen, die aus solchen beengenden Umgebungen ausbrechen, müssen wir schützen. In einem fremden Land kann ich als Demokratin nicht viel tun. Ich kann gesprächsweise versuchen, die „Furcht vor der Freiheit“ zu entschärfen, mehr nicht. Religiöse Fundamentalist*innen denken umgekehrt, dass sie das Recht hätten, überall die Rechtsordnungen zu zerstören, die ihren Grundsätzen entgegenstehen.
Was fehlt in der Debatte?
Wir müssen daran arbeiten, eine Internationale der religiös Liberalen stark zu machen: mit einem positiven Bild von der individuellen Freiheit und der liberaleren Auslegung der je eigenen Traditionen. Wir brauchen eine Zusammenarbeit der liberal Religiösen mit den aufgeklärt Nichtreligiösen. Ziel wäre, diese Stimmen zu verstärken, um Menschenrechte und Demokratie als etwas Gutes – auch innerhalb der Religionen – zur Geltung zu bringen. Denn es gibt in jeder Religion nicht nur die enge, strikte und zu Gewalt neigende Interpretation, sondern auch eine universalistische weisheitliche Grundströmung: die goldene Regel von leben und leben lassen. Die Angst um Alleinstellungsmerkmale loslassen – die weisheitlichen Aspekte hervorheben, das würde viel bringen.
Religonäre - Aktiv im Thema
house-of-one.org | Das interreligiöse Berliner Bauprojekt vereint eine Synagoge, eine Moschee und eine Kirche und wendet sich als Ort des Dialogs ausdrücklich auch an nichtreligiöse Menschen.
heimatkunde.boell.de/de/2020/12/17/interreligioeser-dialog-erfolgsentwicklung-oder-uebergangsphaenomen | Kritische Diskussion des interreligiösen Dialogs im migrationspolitischen Portal der Heinrich Böll Stiftung.
www.ibka.org | Der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten hat sich der Durchsetzung der allgemeinen Menschenrechte verpflichtet und betont die Freiheit, sich zu religiösen oder nichtreligiösen Weltanschauungen zu bekennen oder nicht zu bekennen.
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