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Josef Settele
Foto: Sebastian Wiedling / UFZ

„Die Zeit reicht für Anpassung nicht aus“

26. August 2020

Umweltforscher über Klimawandel und Artensterben – Teil 2: Interview

 

choices: Herr Settele, Sie sind einer der Hauptautoren des UN-Berichts 2019 zum Thema Artensterben. Welchen Einfluss hat der Klimawandel auf die Artenvielfalt?

Josef Settele: Wir hatten bei diesem globalen Bericht analysiert, wie die relative Wichtigkeit verschiedenster Treiber auf die Artenvielfalt ist. Dabei ist eine Priorisierung für die letzten 50 Jahre entstanden: Platz 1 war die Landnutzungsänderung, Platz 2 belegte die direkte Ausbeutung und Platz 3 war der Klimawandel, gefolgt von Umweltverschmutzung, sprich Chemikalien in der Umwelt, Plastik im Meer – und invasiven Arten. Bezogen auf den Klimawandel im Kontext Tierwelt haben wir das Phänomen, dass sich bestimmte Arten in ihrer Verbreitung komplett verändern, andere ausfallen oder weiterwandern, wieder andere zuwandern. Da wird es zu einer starken Veränderung in den Lebensräumen von Tierarten kommen.

Haben Sie ein Beispiel?

Konkret wird das in Sachen Hummeln. Die dicken Brummer, die eigentlich gar nicht fliegen dürften, es aber trotzdem tun. Ihre vornehmlich schwarze Färbung zeigt, dass sie eher in kälteren Klimaten zuhause sind. Es gibt sie nur in der nördlichen Hemisphäre. Beim Klimawandel sind sie stärker betroffen als viele andere Bienen. Wir konnten feststellen, dass viele Hummel-Arten ganz extrem zurückgehen. Sie ziehen sich mitunter zurück in höhere Lagen, wie es in den Alpengebieten möglich ist. Wenn Hummeln hundert Meter weiter hoch gehen, haben sie es da wieder klimatisch passend. Es ergeben sich aber auch Verdrängungen in Richtung Norden. Hierhin zu kommen ist jedoch deutlich schwieriger, da die Entfernungen viel größer sind. Wenn sich also die Temperaturen verändern, dann müssten die Hummeln viele 100 Kilometer weiterwandern, um dieselben Bedingungen vorzufinden wie zuvor. Das Problem hierbei ist, dass die Landschaften nicht durchlässig sind. Damit werden diese Arten klimabedingt aussterben. Bei dieser Spezies kommen auch keine Verwandten aus dem Süden nach, die das ausgleichen würden. Bei den Schmetterlingen wäre es so: Mediterrane Arten, die im Süden zuhause sind, können nach und nach in das mittlere Europa ziehen, also in das neue Mediterrane einwandern und sich da dann wohl fühlen. Hummeln haben diese Möglichkeit leider nicht, da es sie im Süden gar nicht gibt.

„Starke Veränderung in den Lebensräumen von Tierarten“

Können Tiere sich noch gut an die veränderten Bedingungen anpassen?

Es gibt einzelne Arten, die das gut hinkriegen, weil sich die Bedingungen für sie verbessern. Bei diesen sogenannten Winnern handelt es sich aber um die Minderheit. Die große Mehrheit sind eher Loser, die mit der Veränderung nicht zurechtkommen. Verantwortlich dafür ist das Klima und damit verbunden die Verfügbarkeit der entsprechenden Lebensräume. Wenn man das geografisch betrachtet, gibt es in nördlichen Ländern wie Norwegen eine Zunahme von Arten, netto gesehen. Ein paar fallen weg wie etwa Kühle liebende Arten, aber es sind viel mehr, die aus dem Süden neu hinzukommen. Im mediterranen Gebiet sieht das wiederum ganz anders aus. Dort kommen keine neuen Arten dazu und viele fallen weg. Hier in Mitteleuropa haben wir eine gemischte Situation. Insgesamt führt das dazu, dass durch den Klimawandel die Artengemeinschaft zusätzlich homogenisiert wird. Mehrheitlich kommen dieselben Arten vor, die sehr anpassungsfähig sind und sich gut halten können, während die Spezialisten, also Klima- oder Nahrungsspezialisten, sich durch klimatische Veränderungen in ihrer Verbreitung verringern, damit seltener werden und lokal aussterben. In der Summe haben wir also mehr Verlierer als Gewinner bei diesem Prozess.

„Mehr Verlierer als Gewinner“

Wenn wir nun künftig für die Bienen als Bestäuber einspringen müssten?

Wir sind definitiv keine Experten als Bestäuber. Das hat die Evolution uns nicht in die Wiege gelegt. Andere waren dafür zuständig; Hummeln und Co. Es ist belegt, dass die Früchte nicht so groß werden, wenn wir das übernehmen. Das Produkt ist also eher mäßig. Wir dürfen uns klar machen, dass es pro Jahr weltweit je nach Berechnungsbasis 200 bis 600 Milliarden Euro sind, die die Bestäubung durch Insekten uns gratis liefert.

Wenn immer mehr Arten weiter aus dem Süden in den Norden wandern, wie schaut es auf Äquatorebene aus?

Klimawandelphänomene wie bei uns haben wir am Äquator nicht. Dort stellt sich das Phänomen anders dar. Es gibt für Organismen kaum noch Möglichkeiten auszuweichen. Weit ab davon gibt es diese Lebensraumtypen des tropischen Regenwalds nicht mehr. Da ist im Prinzip eine Sackgasse. Bereits kleine Änderungen wirken sich in tropischen Regenwäldern sehr massiv aus. Wenn die Temperaturen um ein oder zwei Grad hoch gehen, sind es zum Teil ganz andere Systeme. Das liegt an ihrem Tageszeitenklima, in dem Temperaturunterschiede im Tagesverlauf stark schwanken, über das Jahr hinweg hingegen kaum. In Europa bestehen artenreiche Lebensräume oft aus Grünländern, also Weiden oder Wiesen. Der Mensch hat diese durch Ackerbau und Viehzucht mit geschaffen. Arten haben sich über lange Zeit daran angepasst, über Hunderte von Jahren. Die Verfügbarkeit von entsprechenden Lebensraumtypen wurde dadurch für ganz Europa betrachtet in der Summe größer. D. h. beispielsweise eine Bienenart hat die Option, von Barcelona irgendwann nach Uppsala zu kommen. In den Tropen hat sie diese geografische Möglichkeit nicht. Von Kinshasa gelangt sie vielleicht noch in die afrikanischen Nachbarländer, aber spätestens in Äthiopien sind Klima und Lebensräume schon wieder völlig anders. In Gebieten mit hoher Diversität, wie in tropischen Regenwäldern oder auch in Korallenriffen, habe ich hohe Spezialisierungen der Arten mit ganz geringer Verbreitung. In unseren Lagen haben wir eher weit verbreitete Arten, genetische Verwandte der gleichen Art. Wenn wir also in Europa von Artensterben sprechen, dann können diese Arten beispielsweise weiter östlich durchaus noch gut vorkommen. Viele unserer seltenen Arten gibt es nach wie vor in der Ukraine und Russland, zum Teil sogar bis nach Japan. Sie nehmen die gesamte nördliche Halbkugel teilweise ein. In den Tropen habe ich Tiere, die nur dort vorkommen. Wenn sich z. B. in Indonesien mit seinen 17.000 Inseln das Klima verändert, ist der Lebensraum nicht mehr vorhanden. Die Option zu fliehen gibt es nicht, da alles von Wasser umgeben ist. Während wir in Europa noch die Chance haben, dass Arten zurückkämen, wenn wir etwas ändern, wären in tropischen Gebieten die Arten dann weg, ausgestorben.

„Korallen sind weltweit die klimaanfälligsten Organismen“

Sie haben gerade Korallen angesprochen. Was hat es für Auswirkungen, wenn diese Tiere aussterben?

Insbesondere in Korallenriffen, in ihrer Symbiose zwischen Korallen und Algen, haben wir das Problem der erhöhten Versauerung, die dazu führt, dass sich die Kalkgerüste dieser Tiere auflösen. Sie leiden bereits vielfach an der Korallenbleiche, einem Vorboten dieser Entwicklung. Weltweit sind sie die klimaanfälligsten Organismen. In unserem Bericht prognostizieren wir, dass vielleicht noch ein winziger Prozentsatz der Korallenriffe bei einem Grad Temperaturanstieg übrigbleibt. Wenn wir es schaffen, die Klimaerwärmung gut in den Griff zu bekommen, sieht es dennoch für Korallenriffe sehr schlecht aus. Ein Beispiel dafür, dass der Klimawandel als Temperaturplus in Kombination mit der Versauerung der Meere bei einem kompletten System den Garaus macht. Ein System, das bekanntermaßen sehr artenreich ist, durch die unterschiedlichen Korallen selbst, aber auch durch die Fischgemeinschaften, die dort leben. Korallen gestalten und erhalten dieses Ökosystem selbst am Leben.

Erderwärmung macht sich weniger an Land und in der Luft bemerkbar, sondern vorwiegend im Wasser. Inwieweit reicht das 1,5-Grad-Ziel aus, um auf den kochenden Whirlpool noch einzuwirken?

Wir haben versucht, in unseren Analysen zu differenzieren, was bisher passiert war – nach den Kategorien an Land, im Süßwasser und im Meer. In allen drei Bereichen war der Klimawandel als wichtiger Faktor auf Platz 3. Der Whirlpool ist ein schönes Bild, mit dem man sich das gut vorstellen kann. Bei 1,5 Grad ist es vielleicht noch nicht heiß, aber aus Sicht so mancher Auster vielleicht schon. Für alle Organismen ist hier die Schwierigkeit, dass sie sich so schnell nicht anpassen können. Einige versuchen es, aber die Zeit reicht dafür nicht aus. Anpassung ist ein Prozess, der viel langsamer geht. Einige Bakterien schaffen das natürlich, weil sie sehr schnell Folgegenerationen produzieren. Das geht binnen einer Woche oder zwei. Denken Sie nur einmal an Antibiotika-Resistenzen. Ein Säugetier wie etwa ein Wal braucht hingegen viele Jahre für eine Folgegeneration. Da ist natürlich nichts mit schneller Anpassung, die man vererben kann. Denn, bis er soweit ist, Nachwuchs zu zeugen, ist das Ganze längst gegessen oder gekocht, um bei dem Bild zu bleiben.

„Billigfleischkultur mit sehr vielen Negativphänomenen“

Die Corona-Krise regt zum Umdenken an. Wie kann die Krise zur Chance werden für Mensch und Tier?

Viele Leute stellen ihre Weichen neu. Sie denken darüber nach, was eigentlich wichtig ist. In Sachen Lebensmittel wandelt sich auch das Einkaufsverhalten mehr in Richtung Qualität statt Quantität. Gerade in Deutschland finde ich das spannend, denn wir als Nation verstehen Essen doch eher als Kohlenhydratumsatz, im Gegensatz zu den Franzosen, für die Lebensmittel einen zentralen Teil der Kultur ausmachen. Beim Fleischessen haben wir eine regelrechte Billigfleischkultur entwickelt mit sehr vielen Negativphänomenen. Die Tierdichte im Stall oder auf dem Feld ist sehr hoch, da es eben auf Masse ausgelegt ist. Um dieses System zu erhalten, wird sehr vieles noch dazu vernichtet oder muss importiert werden. Futtermittel-Importe wie Soja aus Regenwaldgebieten vernichtet auch Vielfalt woanders. Verringere ich hingegen die Tierdichte, habe ich gleichzeitig auch größere Hotspots an Vielfalt: Tiere, Pflanzen einschließlich Insekten bevölkern dann Wiesen und Weiden. Eine Win-win-Geschichte mit weniger Abhängigkeit von außen, weniger Extinktion in den Tropen, kleineren regionalen Lieferketten, mehr Qualität und einem höheren Tierwohl. Denn Tiere auf der Weide sind deutlich besser drauf als in den meisten Formen der Stallhaltung. Für die Tiere ist es eine wichtige Komponente, dass wir unseren Konsum entsprechend modifizieren. Dann haben eigentlich alle etwas davon.

 

www.koelnagenda.de | Der Verein begleitet seit den 90er Jahren die lokale Umsetzung ehrgeiziger Klima- und Umweltziele.
www.lanuv.nrw.de/klima/klimawandel-in-nrw/klimafolgen-in-nrw | Das Landesamt für Natur und Umwelt betreibt ein wissenschaftliches Klimafolgenmonitoring für NRW.
www.koelner-stiftung.de | Die Kölner Stiftung fördert jedes Jahr rund 10 bis 15 Projekte für Tier- und Artenschutz.

 

Interview: Nina Hensch

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