Eine Terminverschiebung ist schuld an dem Doppelschlag. Jan Neumann ist es fast etwas peinlich, dass im März gleich zwei Stücke von ihm an den Schauspielhäusern in Düsseldorf und Essen uraufgeführt werden. Zum Schreibzampano mit langen Fühlern in die großen Häuser taugt er nicht. Bei allem Elan und Selbstbewusstsein, man merkt dem 32jährigen Autor selbst beim Telefoninterview eine Bescheidenheit, aber auch Entdeckungslust an.
Acht Stücke hat er bisher geschrieben, und keines gleicht dem anderen. In der schnell geschnittenen Szenenfolge „Liebesruh“ (2005) beschäftigt er sich mit Sterbehilfe. Um Familie und Geld geht es in „Kredit“ (2007), einem Prosatext mit Dialogimprovisation. Das für Düsseldorf geschriebene „Herzschritt“ behandelt das Singledasein einer Frau Anfang 60 und „Schmelzpunkt“, das in Essen herauskommt, die ungewollte Schwangerschaft eines jungen Mädchens. Durchweg Themen also aus dem unmittelbaren Erfahrungsschatz des Alltags, die auf den ersten Blick kaum dramatischen Gehalt vermuten lassen, hinter denen sich aber, wie Jan Neumann sagt, „archaische Grundthemen wie Liebe, Tod, Krankheit, Einsamkeit“ verbergen. Und Themen, die dem jungen Autor im zeitgenössischen Theater fehlen.
Von Hause aus ist Jan Neumann Schauspieler. Nach seiner Ausbildung an der Bayerischen Theaterakademie nimmt er 1998 ein Engagement am Münchener Staatsschauspiel an. Drei Jahre später wechselte er ans Schauspiel Frankfurt/M. Eine Bilderbuch-Karriere, die jedoch einen Knacks bekam, als er 2003 plötzlich die Kündigung erhielt (die aber wieder kassiert wurde). Damals begann er ernsthaft als Dramatiker zu arbeiten, stellte sein erstes Stück „Goldfischen“ fertig und startete zugleich eine Karriere als Regisseur. Eine Art theatraler Dreieinigkeit, deren ständigen Wechsel er inzwischen schätzen gelernt hat. Seine Theatersozialisation hat der Münchener Jan Neumann in der „bunten Bonbonkiste Residenztheater“ unter Intendant Eberhard Witt erlebt. Doch die Zeit von Ironie und Spaßkultur ist für ihn vorbei. So leben seine Stücke auch nicht von Entlarvung oder Denunziation, sondern überraschen mit einer Grundempathie für alle Figuren. „Es geht um den Menschen“, sagt der junge Autor. Weder die 60jährige Ursula, noch ihre klettenhafte Mutter oder „Traummann“ Harald in „Herzschritt“ werden – bei aller Komik – bloßgestellt. Das gilt auch für die sprachlich harsche, aber emotional weit aufgefächerte Pubertätswelt in „Schmelzpunkt“. Jan Neumann will nicht erklären, sondern beobachten und beschreiben. Nur so könne Theater wieder als moralische Anstalt funktionieren. Neumann spricht von einer „Bewegung hin zum Erzähltheater“, das dann auch vor Emotionen nicht zurückschreckt. „Man muss die Gefühlsdebatte führen“, sagt er bestimmt. Darin hat ihn vor allem das sinnliche und emotionale Theater des lettischen Regisseur Alvis Hermanis bestärkt, dem er in Frankfurt und Riga begegnet ist. Dass er dafür gelegentlich angegriffen wird, nimmt er dabei gerne in Kauf.
Düsseldorfer Schauspielhaus: „Herzschritt“, 8.(Premiere), 9., 14., 23., 24.3., www.duesseldorfer-schauspielhaus.de. Schauspiel Essen: „Schmelzpunkt“, 29.3.(Premiere), 2., 7., 8. 4.; www.theater-essen.de.
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