Elfriede Jelinek hat diesmal frei. Mit fünfzehn Teilnahmen am „Stücke“-Festival zählt sie zu den dramatischen Dauergästen in Mülheim. Jetzt hat es ihr Stück „Kein Licht“ in der Inszenierung von Karin Beier am Kölner Schauspiel nicht in die Endrunde geschafft. Macht nichts. Dafür ist ein anderer Dauerteilnehmer dabei: René Pollesch mit „Kill your darlings! Berladelphia“, das uns den hinreißenden Fabian Hinrichs samt fünfzehn Turnern beschert, die dem Zuschauer den Doppelsalto gehockt der marxistischen Theorie präsentieren.
Die Stücke 2012 präsentieren wie jedes Jahr die besten Uraufführungen der Saison und gelten gleichermaßen als Seismograph wie als Bestandsaufnahme des deutschsprachigen dramatischen Schaffens. Mit sieben Stücken ist die Auswahljury, der neben Sprecher Till Briegleb die Journalisten Christine Dössel, Wolfgang Kralicek, Barbara Burckhardt und Peter Michalzik angehörten, auch diesmal unter der Grenze von möglichen acht Einladungen geblieben. „Es war kein wirklich starker Jahrgang“, sagt Briegleb im Gespräch. Insgesamt wurden 123 Uraufführungen gesichtet, Briegleb sieht darin allerdings schon eine Überproduktion, die vor allem den Schreibschulen geschuldet sei. An der Machart der Stücke erkenne man schnell die Herkunft vieler Jungautoren, die oft nur für einen kurzen Erfolg stünden.
Völlig anders steht der Fall ganz offenbar bei der jungen Anne Lepper. „Sie halten wir alle für ein Supertalent“, so Briegleb. 1978 in Essen geboren hatte sie gleich zwei Stücke im Rennen. Geschafft hat sie es mit „Käthe Hermann“, in dem sich eine ältere Frau, die mit ihren Kindern zusammenlebt, am Beginn ihrer Ballettkarriere glaubt. Selbstbetrug und Familiendrama, das sind die Pole zwischen denen das Stück oszilliert. Und damit ist man dann auch schon bei einem aktuellen Trend. Es ist die Familie, die in dieser Saison als Thema mal wieder im Vordergrund steht, so Briegleb. Eigentlich eine Domäne vieler Jungautoren, nehmen in diesem Jahr gerade auch ältere Dramatiker die Kernzelle der Gesellschaft auseinander und untersuchen sie auf ihre Verstrickungen in der Geschichte. Allen voran Altmeister Peter Handke mit „Immer noch Sturm“, einer Art epischem Drama über seine eigene Familie, die zur slowenischen Minderheit in Kärnten gehörte. Ein Erzähler ruft darin die familiären Geister der Vergangenheit herauf, doch es ist vor allem ein Text über die Sprache als Kultur und als Heimat. Martin Heckmanns dagegen holt in „Vater Mutter Geisterbahn“ die bildungsprekären Thirtysomethings auf die Bühne, die sich ein Einzelkind ‚leisten’ und dann schnurgerade in ein Erziehungsdesaster hineinsteuern. Der einzige Autor, der in diesem Jahr neben Pollesch über den Familientellerrand hinausblickt, ist der junge Philipp Löhle. Sein Stück „Das Ding“ verfolgt auf eindringliche Weise den Weg einer Baumwollflocke, die in Afrika gepflückt, danach in China verarbeitet, in Europa als T-Shirt getragen und dann als Altkleiderklumpen wieder nach Afrika verschifft wird – und alles ohne je in abstraktes Thesentheater zu verfallen, sondern fußballerisch gesprochen: immer nah am Mann.
„Stücke 2012“ | Stadthalle Mülheim/Theater an der Ruhr/Ringlokschuppen | 19.5.-7.6. | www.stuecke.de
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