Vier Soldaten desertieren aus der Armee und schlagen sich nach Mülheim an der Ruhr durch. Sie hoffen auf einen Aufstand, brauchen was zu essen und sind zur Solidarität gezwungen. Unterschlupf finden sie bei der Frau eines der Soldaten. Doch einer hat seinen eigenen Kopf: Fatzer geht nicht nur mit der Frau ins Bett, er ist auch notorisch unzuverlässig und hemmungslos egoistisch – bis ihn seine Freunde totschlagen. „Der Untergang des Egoisten Fatzer“ lautet der Titel des unvollendeten Stücks von Bertolt Brecht von 1928. Es geht um Hunger, Solidarität und Egoismus, Flucht und Revolte – Themen, die nach wie vor aktuell sind, weshalb sich Theatermacher bis heute lustvoll an dem Fragment abarbeiten.
Einer dieser Fatzermaniacs ist Alexander Karschnia. Zusammen mit der Gruppe andcompany&Co. und brasilianischen Schauspielern hat er in São Paulo die Produktion „FatzerBraz“ erarbeitet. Brecht sei in Brasilien viel lebendiger als in seinem Mutterland, auch wenn er manchmal etwas zu ernst genommen würde, erzählt Karschnia. Die Neuübersetzung von Heiner Müllers „Fatzer“-Fassung ins Portugiesische bot die Möglichkeit, mit der einheimischen Freien Szene, die politisch bewusster und aktiver sei als die Deutsche, in einen lebendigen Austausch zu kommen. Und so entstand eine Produktion, die sich auf das brasilianische Sozialprogramm „Null Hunger“, auf die Großstadtregion São Paulo sowie die Stadtguerillatheorie von Carlos Marighela bezieht und Brecht einem tropikalischen Remix unterzieht.
"Das Material ist unerschöpflich"
Nach Auftritten in Berlin kommt andcompany&Co. jetzt mit „FatzerBraz“ nach Mülheim, wo der Ringlokschuppen seine „Ersten Mülheimer Fatzer Tage“ veranstaltet: „Fatzer’s coming home“. Noch ein Festival, denkt man, doch Dramaturg Matthias Frense wiegelt ab. Vier Tage will man sich in Aufführungen, einem Symposium und einer Lesung mit Brechts „modernstem Text“ auseinandersetzen. Kein Festival-Gemischtwarenladen also, sondern eine konzentrierte Tiefbohrung in Brechts Fatzer-Steinbruch. Seit 2008 beschäftigt man sich mit dem Thema in Jugendprojekten oder im Gastspielaustausch mit Mülheims Partnerstädten.
Im April werden jetzt neben der andcompany&Co. „Fatzer“-Interpretationen mit Jugendlichen vom Spinnwerk im Centraltheater Leipzig und vom kainkollektiv zu sehen sein. Dass eine solche monothematische Veranstaltung auf Dauer langweilig wird, sieht Matthias Frense nicht: „Das Material ist unerschöpflich“. Frense stellt Zusammenhänge zur Globalisierung, zu Flüchtlingsströmen, aber auch zur Debatte um das Ende des autonomen Subjekts her.
In Zukunft wollen die Fatzer Tage Künstler auf professioneller und auf Laienebene einladen, Eigenproduktionen neben Gastspielen zeigen und auch die Fühler ins Ausland ausstrecken. So beobachtet Matthias Frense die Szene in Italien besonders genau, wo das Fatzer-Material gerade neu übersetzt wurde. Und für 2012 plant die Volksbühne Berlin ein großes „Fatzer“-Projekt – und das könnte man sich gut in Mülheim vorstellen.
„Erste Mülheimer Fatzer Tage“
Ringlokschuppen Mülheim an der Ruhr I 27.-30.4. I 0208 99 31 60
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