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Fürs Erste gerettet
Foto: 2ragon / Adobe Stock

Freiheitskampf zwischen LEDs

30. Mai 2023

Widerstand in einer fast wirklichen Welt – Glosse

Über ihnen rauscht der Zug vorbei, als sie sich verabschieden. Sie kippen noch eine letzte Runde Synth-Storm auf den erfolgreichen Tag. Dieses Datum wird in die Geschichte eingehen. Oder zumindest die Ereignisse, die sie losgetreten haben. Die riesigen Bildschirme an den Gebäudefronten verkünden den Tod des Diktators. Die Bilder des Nachrichtensprechers wechseln sich ab mit Aufnahmen ihrer Aktionen. Cloud, der in das Büro des Despoten eindringt, der erst auf Knien um Gnade winselt, dann aber hinterhältig nach einer Waffe greift, was sein Schicksal besiegelt. Edges Revolver war schneller. Dann Alita, die erfolgreich eine Revolte im Gefängnis anführt. Gegen die Masse der politischen Gefangenen haben die Wächter keine Chance. Und schließlich Edge, der eine neue Ära der Demokratie verkündet. Seine Botschaft erreichte dank eines Hacks in den Gov-Trojaner die Kommunikatoren aller Bewohner von Night Liberty City. Technologie solle die Menschen frei machen, sagte er, nicht sie überwachen. So wie er alle Menschen erreiche, so breche der Cyberspace auch ihre Barrieren auf, egal, ob sie in den Slums unter den Speedways leben oder in den Penthouses von Vertica.

Logout an der Botschaft

Als sie schließlich gehen, fliegen Edge, Alita und Cloud von nahezu allen Passanten Daumen, Herzen und Kudos zu. Ihr Weg ist gesäumt von messbarer Achtung, die LED-Bildschirme sind die Banner ihres Triumphes, die Luft knistert vom Geist der Freiheit. Mit Blick auf die dahinrasenden Fahrzeuge auf dem langen Band des Speedways, in einer dreckigen Gasse zwischen zwei Neonlichtcontainern oder mitten auf dem Gelände der Botschaft der United Ads loggen sie sich aus.

Edge setzt sein Headset ab. Graues Licht fällt durch das Fenster in sein Zimmer. Jetzt aber los, zur Berufsschule. Er macht sich fertig und verlässt kurze Zeit später die Wohnung. Als er durch die backsteinerne Arbeitersiedlung zur Bahnhaltestelle läuft, erhellen keine Bildschirme seinen Weg. Der Haltestopp leuchtet nicht neonfarben, sondern natriumdampfgelb. Einzig der Name der Haltestelle, Man Turbo, hat etwas von Night Liberty City, der Stadt im Betaversum, die er heute Nacht gerettet hat. Statt haufenweise Likes fliegen Edge nur flüchtige Blicke zu. Außer ihm warten nur ein offensichtlicher Alkoholiker und ein Schwarzer auf die Bahn. Letzterer ist Edge suspekt, warum, weiß er nicht. In NLC ist Edge selbst ein Schwarzer. Die Stadt, in der er den Tag verbringt, hat zweihunderttausend Einwohner und ist Teil einer Agglomeration. Einer Agglomeration aus Hoffnungslosigkeit, Verfall und Rückständigkeit.

Verfall und Hoffnung

Edge, der tagsüber Jonas heißt, fährt rund eine Stunde und steigt zwei Mal um, ehe er in der zwölf Kilometer entfernten Berufsschule ankommt. Dort darf er seinen Lehrern die halbe Unterrichtsstunde lang erklären, wie man die E-Learning-Plattform bedient. Klicken Sie jetzt auf den Button „Dateien hochladen“. Direkt unter den Buttons „Umfrage starten“, „Lernleistungen in Echtzeit abrufen und automatisch individuelle Lernpfade erstellen“, „KI-gestützte Multimedia-Lerneinheiten generieren“, diese Buttons, die Sie nie benutzt haben, nie benutzen werden, und die auszuprobieren sie sogar Angst haben. Am Nachmittag fährt er wieder dreißig Minuten zur Stadtverwaltung, tackert irgendwelche Zettel zusammen. Außerdem füllt er zwei Fragebögen aus, einen zur Mitarbeiterzufriedenheit und einen zur Digitalisierung in der Verwaltung. PDFs gespeichert, gemailt, weitertackern. Kurze Zeit später erhält er zwei E-Mails zurück, er solle die Fragebögen bitte ausdrucken und per interner Post zuschicken, damit sie eingescannt werden können. 

Zu wenige politische Gefangene

Bei Alita ist es Nachmittag. Bis ihre Nachtschicht anfängt, ist es noch Zeit, sie legt sich schlafen. Schließlich verwandelt sich die Gegend vor ihrem Fenster in das Land der aufleuchtenden Neonreklame. Alita, die jetzt Sakura heißt, zwängt sich in einen vollen Fahrstuhl, läuft eine bevölkerte Straße entlang und quetscht sich in einen vollen Zug. Niemand sagt ein Wort, nur hier und da plärrt eine laute Werbebotschaft aus irgendwelchen Lautsprechern. Ihr gesamter Weg ist gesäumt von Bildschirmen, doch keiner zeigt ihr Gesicht, zeigt keine Heldentaten. Stattdessen sieht sie Männer aus der Politik, die ihre Versprechen verlautbaren, und Männer aus der Wirtschaft, die die Projekte ihrer Freunde aus der Politik unterstützen, und Frauen, die die Produkte der Männer aus der Wirtschaft dekorieren. Allein für das Veröffentlichen von politischen Interna würden Sakura in ihrem Land bis zu zehn Jahre Haft drohen. Noch sind die Gefängnisse nicht voll genug mit politischen Gefangenen, als dass sie eine Revolte anzetteln könnte wie in NLC. Noch nicht, denkt Sakura, steigt aus der Bahn und betritt das Krankenhaus. Die gesamte Schicht lang wird sie mit den anderen Schwestern nicht über Politik sprechen. Sie wird überhaupt nicht nach ihrer Meinung gefragt werden.

Wie Demokratie funktioniert

Bei Cloud alias Brandon war es Nacht, als er das Betaversum verließ. Jetzt steht er auf der Wiese hinter seinem Haus und schießt mit einem echten Revolver auf echte Pappkameraden, denen er Portraits echter Politiker aufgeklebt hat. Politiker aus einer weit entfernten Hauptstadt. Überhaupt ist alles weit entfernt, auch der nächste Nachbar. Brandon nimmt das ausgedruckte Foto in die Hand. Es hat ein Loch zwischen den Augen. Mein Stimmzettel, denkt er zufrieden, anders funktioniert Demokratie nicht. Weder in Night Liberty City noch hier.


MUNDWERK - Aktiv im Thema

dako-ev.de | Der in Köln ansässige Verein Deutsch-Afrikanische Kooperation setzt sich ein für „Integration und Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund mit und ohne Behinderung, unabhängig von Alter, Nationalität, Religion und Geschlecht“.
korientation.de | Der 2008 gegründete Verein korientation – Netzwerk für Asiatisch-Deutsche Perspektiven klärt über antiasiatischen Rassismus und das „(post)migrantische“ Leben in Deutschland auf.
bv-nemo.de | Im Bundesverband Netzwerke von Migrant*innenorganisationen e.V. setzen sich über 750 Vereine für eine diskriminierungskritische Gesellschaft ein.

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Marek Firlej

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