Treffe ich mich noch mit Freund:innen auf ein Bier in der Kneipe? Trainiere ich im Fitnessstudio? Diese Fragen stellen sich in der Corona-Pandemie viele Bürger:innen in Schweden. Denn die rot-grüne Minderheitsregierung unter Ministerpräsident Stefan Löfven verzichtet auf umfangreiche Zwangsmaßnahmen. Lediglich zwei Verbote bestehen: keine Versammlungen von mehr als 49 Personen und keine Besuche von Pflege- und Altenheimen.
Während andere Staaten das öffentliche Leben heruntergefahren haben, verzichtet Stockholm bisher auf Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen. Kindergärten, Schulen (bis Klassen 9), Schwimmbäder, Bibliotheken öffnen weiter ihre Türen. Kinovorstellungen bleiben auf bis zu 49 Besucher:innen erlaubt. Betrieb herrscht auch in Cafés und Restaurants – allerdings mit Abstandshaltung, auf die Betreiber:innnen und Besucher:innen eigenverantwortlich achten.
Das entspricht der schwedischen Marschroute: Freiwilligkeit statt Zwang. Ministerpräsident Stefan Löfven appellierte zwar in seiner „Rede an die Nation“ an den Zusammenhalt und einen fürsorglichen Umgang mit Älteren und Vorerkrankten. Weitreichende Einschränkungen verkündete er jedoch nicht. Gesellschaftlicher Druck besteht trotzdem. Dieser drückt sich etwa im Wort „Smittskam“ aus. Angelehnt an den ebenso schwedischen Begriff „Flygskam“ (zu Deutsch: Flugscham) bezeichnet er die Scham, durch fahrlässiges Verhalten andere zu infizieren.
Anders Tegnell, der „Staatsepidemiologe“ Schwedens, informiert regelmäßig die Bevölkerung. Auf dieser Grundlage sollen die Bürger:innen selbst entscheiden. Trotzdem verfolge das Land die gleiche Strategie wie alle anderen betroffenen Staaten, sagt Tegnell: Die Ausbreitung des Virus soll verlangsamt werden. Naiv sei diese Strategie nicht, betont er: Gesellschaftliche Belastungen sollten möglichst gering gehalten werden.
Denn welche negativen sozialen Folgen der „Lockdown“ in Europa und anderen Ländern nach sich ziehen wird, weiß aktuell niemand: Wie hoch ist die Dunkelziffer häuslicher Gewalt? Wie ergeht es Kindern von schlecht entlohnten oder arbeitslosen Familien, wenn sie über Wochen auf engstem Raum ausharren müssen? Anders als von Blaulicht-Einsätzen oder Militär-Transporten in Bergamo gibt es von diesen Katastrophen keine konkreten Darstellungen.
Zuletzt wuchs im Ausland die Skepsis gegenüber Stockholms Sonderweg. Doch dort gehört es zur Tradition, während einer Krise den Empfehlungen der Expert:innen zu folgen. Tegnell, den heimische Boulevardblätter nun zum Nationalidol verklären, hat bereits Erfahrungen im Kampf gegen die Schweinegrippe und Ebola gesammelt. Auf Pressekonferenzen tritt er betont gelassen auf. Besonnen reagiert Tegnell auch auf die jüngsten Forderungen nach Ausgangsbeschränkungen. „Menschen zu Hause einzusperren wird auf lange Sicht nicht funktionieren. Früher oder später werden die Leute sowieso rausgehen“, sagt der Stratege.
Über das Osterwochenende meldeten die Behörden jedoch schlechte Nachrichten: Fast 11.000 Schweden haben sich mittlerweile mit dem Virus infiziert, 919 Menschen starben. Ministerpräsident Stefan Löfven schlug daher ein Notstandsgesetz vor. Dieses erlaubt eine schnelle Schließung von öffentlichen Einrichtungen sowie des Nahverkehrs, falls die Infektionskurve in den nächsten Tagen weiter ansteigen sollte. Wirklich gewappnet ist Schweden dafür nicht. In den Krankenhäusern ging man keinen Sonderweg und sparte in den letzten Jahren, wie alle europäischen Nachbarn, das Gesundheitssystem kaputt.
Gesundes Krankenhaus - Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und engels-kultur.de/thema
Aktiv im Thema
bundesgesundheitsministerium.de/mdk-reformgesetz.html | Infos des Ministeriums mit Kurzvideo, Zusammenfassung und Gesetzestext.
mdk-nordrhein.de | Versicherte haben direkten Kontakt mit dem medizinischen Dienst, z. B. zur Beantragung von Pflegegraden oder Beratung zur Arbeitsunfähigkeit.
bundesrechnungshof.de/de/veroeffentlichungen/produkte/beratungsberichte/2019/2019-bericht-krankenhausabrechnungen-durch-die-krankenkassen-der-gesetzlichen-krankenversicherung | Kritischer Bericht des Bundesrechnungshofs über Krankenhausabrechnungen durch die GKV.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@choices.de.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Krisenerfahrung
Intro - Gesundes Krankenhaus
Kranke sind keine Kunden
Covid-19 verdeutlicht einen 30-jährigen neoliberalen Irrweg – Teil 1: Leitartikel
„Das System wackelt“
Mediziner Felix Ahls über Krankenhausfinanzierung – Teil 1: Interview
Reale Gefahr und digitaler Schutz
Das Gesundheitssystem unter Druck – auch in Köln – Teil 1: Lokale Initiativen
Was für Systemrelevante relevant ist
Von der Ökonomie zum Patientenwohl: Corona als Chance? – Teil 2: Leitartikel
„Patienten werden als Gewinnquelle gesehen“
Soziologe Karl-Heinz Wehkamp über Ethik und Ökonomie der Medizin – Teil 2: Interview
Klinikpersonal sieht den ganzen Menschen
Anthroposophischer Ansatz im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke – Teil 2: Lokale Initiativen
Im Wettlauf gegen den Keim
Stehen wir vor der post-antibiotischen Ära? – Teil 3: Leitartikel
„Große Lücken im Kampf gegen Keime“
Infektiologe Peter Walger über die Gefahr multiresistenter Erreger – Teil 3: Interview
Händewaschen auch nach Corona
Aktion Saubere Hände in Wuppertal – Teil 3: Lokale Initiativen
Die Zeit der hirnfressenden Besserwisser
Bald in einem Krankenhaus in Ihrer Nähe? – Glosse
Spielglück ohne Glücksspiel
Gegen teure Belohnungen in Videospielen – Europa-Vorbild: Belgien
Soziale Energiewende
Klimaschutz in Bürgerhand: Das Energy Sharing – Europa-Vorbild: Österreich
Exorzismus der Geisternetze
Bekämpfung von illegaler und undokumentierter Fischerei – Europa-Vorbild: Italien
Fessel für die Freiheit
Elektronische Fußfessel für häusliche Gewalttäter – Europa-Vorbild: Spanien
Grasen für die Natur
Wisente in den Karpaten schützen Klima und Artenvielfalt – Europa-Vorbild Rumänien
Zurück in die Freiheit
Geringe Rückfallquote bei Strafgefangenen – Europa-Vorbild Norwegen
Bildung für mehr Miteinander
Pflichtfach Empathie – Europa-Vorbild Dänemark
Soziale Bakterien
Den Ursprüngen sozialer Phobien auf der Spur – Europa-Vorbild: Irland
Ungefilterte Schönheit
Regeln für Influencer – Europa-Vorbild: Frankreich
Alltag ohne Hindernisse
Städtische Barrierefreiheit – Europa-Vorbild Schweden
Wir müssen reden!
Bürgerräte als demokratische Innovation – Europa-Vorbild: Belgien
Konzern in Arbeiterhand
Die Industriegenossenschaft Mondragón – Europa-Vorbild: Spanien
Menschenrecht gegen Polizeikontrolle
Die Allianz gegen Racial Profiling – Europa-Vorbild: Schweiz