Das Unheil beginnt mit einem I-Phone, das der Tochter von Herrn Schmitz, Toms Arbeitgeber, gehört. Tom hat damit gespielt und es „aus Versehen“ eingesteckt, weil er fürchtete, als Dieb dazustehen. Self-fulfilling prophecy nennt man das. Nun entwickelt er mit seinem Freund Bruno einen Plan, wie sie das Corpus Delicti zurückgeben können. Die Idee mit dem türkischen Erpresser ist allerdings so hanebüchen, dass Herr Schmitz ihnen schnell auf die Schliche kommt. Die Situation eskaliert in Gewalt und einer Geiselnahme, und jede Entscheidung, die die beiden Jungs treffen, macht alles nur noch schlimmer. Ein Dream-Team eben.
„Dream Team“ heißt das neue Stück von Lutz Hübner, das jetzt am Theater Essen uraufgeführt wurde. Es geht darin um Realitätsverlust und Eskapismus, aber auch um die Chancen Jugendlicher in einer Gesellschaft. Oder wie Herr Schmitz es dras-tisch formuliert: „Euch braucht hier niemand. Euch braucht hier niemand. Die Jobs, für die ihr genau richtig seid, gibt es nicht mehr. Ihr seid überflüssig.“ Hübners Stück ist komisch, ohne seine Figuren zu denunzieren. Es ist tragisch, ohne eine Katastrophe aufzutürmen. Und all dies mit einer dramaturgischen und psychologischen Genauigkeit, die einmal mehr die Ausnahmestellung des 44jährigen Dramatikers bestätigt und auf die sich jeder Regisseur blind verlassen kann.
Genau das tut Katja Lauke in der Essener Casa. Im Podestbühnenbild von Katherine von Hellermann mit Kühlschrank, Fernseher und Türen, das sich nach und nach in lauter kleine Einsamkeitsinseln auflöst, inszeniert die Regisseurin ein temporeiches Spiel. Mit großem psychologischem Feinsinn arbeitet sie die sich ständig verschiebende emotionale Balance zwischen Bruno, Tom und Herrn Schmitz heraus. Raiko Küster versieht die Figur des Tom mit einer blinden Selbstsicherheit, die an Hochstapelei grenzt, aber nur seine Verunsicherung verdeckt. Wie in kommunizierenden Röhren schwingt sich Bruno (Lukas Graser) dagegen von kindlich-neurotischer Gewalttätigkeit zu immer klareren Erkennt-nissen auf. Und Christoph Fingers Schmitz-Figur paart Gutmütigkeit mit hartem Realitätssinn, die ihn in eine fast (lebens)müde Erschöpfung treibt.
Wieder einmal gelingt Hübner eine ideologiefreie gesellschaftliche Zustandsbe- schreibung von großer Treffsicherheit. Dabei ist der viel gespielte Autor kein dramatischer Bilderstürmer. Hübners Stücke verfügen über klare Plots, psychologisch durchgeformte Charaktere und eine konzise dramaturgische Handlungsführung. Und sie lassen auf wundersame Weise die Zielgruppe, an die sich richten, changieren. Dass „Dream Team“ nur ein Stück für und über Jugendliche ist, ist nämlich eine vergebliche Hoffnung. Die Bankenkrise hat uns gelehrt, dass auch Manager vor Selbstüberschätzung nicht gefeit sind – nur endet das dann in einer weltweiten Finanzkrise.
Lutz Hübner: Dream Team, Regie: Katja Lauken I Schauspiel Essen I 6./15./16.2 I Karten: 0201 812 22 00 I www.theater-essen.de
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