Internationale Stars gehen bei den Ruhrfestspielen ein und aus, seit Frank Hoffmann in Recklinghausen das Sagen hat. Jetzt gastierte zum zweiten Mal Cate Blanchett auf dem Grünen Hügel. Die Hollywoodactrice spielte die Rolle der Lotte in Botho Strauß’ Drama „Groß und Klein“, und Stückwahl sowie das Ergebnis hätten nicht ungewöhnlicher sein können. Strauß schickt die Hauptfigur Lotte auf die Suche nach dem pulsierenden sozialen Fleisch unter dem Panzer der Saturiertheit in der späten Bundesrepublik. In der Bearbeitung von Martin Crimp und der Regie von Benedict Andrews macht die Sydney Theatre Company daraus ein verblüffend komisch-absurdes Gesellschaftsbild. Lottes Besuch bei der Gartenparty ihres Bruders gerät genauso zur choreographierten Slapstick wie die grotesk getänzelte Büroszene mit ihrem Interimslover. Lottes Verzweiflung geht allerdings nicht vollends in Komik auf. Über einer kleinbürgerlichen Grundierung macht Cate Blanchett aus ihr eine ergreifende Studie einer Figur, die den Panzer dichtzuhalten versucht und doch offenbart, wie weit gesellschaftliches und individuelles Sein auseinanderklaffen.
Manche Hollywoodstars haben selbst zur Geschichte der BRD etwas Substantielles zu sagen – was man von den deutschen Uraufführungen auf dem grünen Hügel diesmal kaum sagen konnte. Eher verquast Kevin Rittbergers „Lasst euch nicht umschlingen ihr 150 000 000“, das sich zwischen den Absurditäten der Werbefotografie, einer klischierten utopischen Gesellschaft und dem Aufstand in Tunesien 2011 vergaloppiert. Ähnlich das Projekt „Zerschossene Träume“ von Wolfram Lotz und Martin Laberenz, das sich aus dem Schlemmertopf der Identität bedient: Schauspieler und Rolle, Schauspieler und Körper, Körper und Geschlecht – alles dient als Spielmaterial um einen kontrasexuellen Thilo Sarrazin oder die von einem Darsteller gespielte Lindsay Lohan, die in der Verfilmung ihres Lebens mitspielen soll. Der Turbowechsel der Realitätsebenen ist rasant, aber nicht neu, dafür entschädigen die brillanten Schauspieler vom Centraltheater Leipzig nur einigermaßen. Überzeugen konnte bei den Uraufführungen nur Dennis Kellys „Die Opferung des Gorge Mastromas“ vom Schauspiel Frankfurt, das das Leben eines kapitalistischen Monsters nachverfolgt. Freunde, erste Liebe, Affären, überall ist Gorge Durchschnitt, bis er plötzlich seinem Chef den Todesstoß versetzt und damit der Erfolg kommt. Das Stück wechselt zwischen gespielten Szenen und den Texten eines Erzählers, den Torben Kübler mit grandioser Virtuosität irgendwo zwischen Clown und allmächtigem Strippenzieher spielt. Hinter ihm ist durch Glasscheiben das Aquarium der Hochfinanz zu sehen. Hier hockt der graubärtige Citizen Mastromas (Isaak Dentler) in einem Sessel, hier serviert er zusammen mit der Heuschrecke A (eiskalt: Katja Uffelmann) seinen Chef ab, hier verkündet er sein Credo von der moralfreien Lüge um des Erfolgs willen. Am Ende entpuppt sich in Christoph Mehlers Regie der Erzähler als Gorges Enkel Pete, ein junger antikapitalistischer Aktivist, der selbst seinen eigenen subjektiv getönten Blick auf das Monster erzählt hat. Wer will da noch ernsthaft sagen, was Wahrheit und was Lüge ist?
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