Theater sind selten visionär. Langfristige Spielpläne und die Schreibdauer von neuen Stücken machen schon Aktualität oft zu einem müßigen Unterfangen. Manchmal gelingt es aber doch. Bereits 2007 brachte die Schweizer Gruppe Far A Day Cage ihr Stück „Nothing Company“ über einen Konzern heraus, der nur noch das Versprechen des Produkts verkauft: eben das blanke Nichts. Am Ende platzt die große Nothing-Blase, und das Finanzsystem kollabiert.
„Nothing Company“, das beim Festival Politik im Freien Theater in Köln gastierte, ist ein Symptom für ein schon länger zu beobachtendes Interesse des Theaters an der Realität. Auslöser waren ausgerechnet die Ironie- und Poppirouetten der 1990er Jahre. Dabei wurde zwar der Blick für die Zeichenformen des Theaters geschärft, doch das Kreisen im Hamsterrad der Simulationsdebatten machte neue Lust auf die Wirklichkeit. An die Widerspiegelung des Realen glaubt heute allerdings niemand mehr. Der Reiz liegt vielmehr im fliegenden Wechsel zwischen Authentizität und Fiktion, der gerne durch die Arbeit mit Laien forciert wird. So stellte die Gruppe Hofmann & Lindholm in der Video-Installation „Serie Deutschland“ historische Ereignisse der BRD mit Normalbürgern nach und hinterfragte dabei sowohl unsere medial geprägten Geschichtsbilder wie den Begriff der Repräsentation. Andererseits erreicht das Theater in Constanza Macras Choreographie „Hell on Earth“, die mit Jugendlichen aus Berlin-Neukölln arbeitet, einen Grad sozialer Unmittelbarkeit, den es so selten hat.
Die Beimischung realer Geschmackverstärker auf der Bühne ist der eine Weg. Der Regisseur Jörg Lukas Matthaei trieb die Theaterbesucher lieber gleich auf die Straße. Seine Produktion „Kurz nachdem ich tot war“ kam als dreistündige Schnitzeljagd auf den Spuren eines fiktiven Kölner Lebenslaufs daher. So groß der Wirklichkeitshunger vieler Gruppen ist, er ist meilenweit vom Dokumentartheater der 1960er Jahre entfernt. Die ideologische Gewissheit und moralische Überheblichkeit von Autoren wie Peter Weiss oder Rolf Hochhuth sind heutigen Theatermachern fremd. Sie wissen, dass jede Doku nur eine weitere Interpretation von Wirklichkeit liefert. Doch sie wissen auch, dass deshalb noch nicht alles dem Verdikt der subjektiven Meinung anheim fällt. Der Unterschied ließ sich am deutlichsten an dem Stück „Kamp“ der Gruppe Hotel Modern ablesen. Im Gegensatz zum Objektivitäts-Pathos von Peter Weiss’ „Ermittlung“, zeigt die holländische Gruppe einen Tag im KZ Auschwitz mit Hilfe von daumengroßen Püppchen in einem Lager-Modell, die mit der Kamera gefilmt werden. Durch die Distanz des Figurentheaters wird das Grauen überhaupt erst darstellbar; die Filmbilder ‚entlarven’ das Gezeigte zugleich als mediale Aufbereitung des Holocaust. Die Arbeit mit Laien, das Ausgreifen in den Stadtraum, der Verlust ideologischer Gewissheit, die Frage nach den Formen der Repräsentation – der theatrale Hunger nach Realität ist unverkennbar, und er dürfte in den Zeiten der Krise eher noch größer werden.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Endspurt für Mammut-Projekt
Beethovenhalle kurz vor der Fertigstellung – Theater in NRW 11/24
Jünger und weiblicher
Neue Leitungsstruktur am Mülheimer Theater an der Ruhr – Theater in NRW 10/24
Überleben, um zu sterben
Bund will bei der Freien Szene kürzen – Theater in NRW 09/24
Bessere Bezahlung für freie Kunst
NRW führt Honoraruntergrenzen ein – Theater in NRW 08/24
Mit allen Wassern gewaschen
Franziska Werner wird neue Leiterin des Festivals Impulse – Theater in NRW 07/24
„Zero Waste“ am Theater
Das Theater Oberhausen nimmt teil am Projekt Greenstage – Theater in NRW 06/24
Demokratie schützen
Das Bündnis Die Vielen ruft zu neuen Aktionen auf – Theater in NRW 05/24
Theatrales Kleinod
Neues Intendanten-Duo am Schlosstheater Moers ab 2025 – Theater in NRW 04/24
Neue Arbeitszeitregelungen
Theater und Gewerkschaften verhandeln Tarifvertrag – Theater in NRW 03/24
„Der Tod ist immer theatral“
Theatermacher Rolf Dennemann ist gestorben – Theater in NRW 02/24
Standbein und Spielbein
Pinar Karabulut und Rafael Sanchez gehen nach Zürich – Theater in NRW 01/24
Das diffamierende Drittel
Einkommensunterschiede in der Kultur – Theater in NRW 12/23
Neues Publikum
Land NRW verstetigt das Förderprogramm Neue Wege – Theater in NRW 11/23
Analoge Zukunft?
Die Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund eröffnet ihren Neubau – Theater in NRW 10/23
Tausch zwischen Wien und Köln
Kay Voges wird Intendant des Kölner Schauspiels – Theater in NRW 09/23
Folgerichtiger Schritt
Urban Arts am Theater Oberhausen – Theater in NRW 08/23
Neue Allianzen
Bühnen suchen ihr Publikum – Theater in NRW 07/23
Interims-Intendant für den Neuanfang
Rafael Sanchez leitet ab 2024 das Schauspiel Köln – Theater in NRW 06/23
And the winner is …
Auswahl der Mülheimer Theatertage – Theater in NRW 04/23
Knappheit und Kalkulation
Besucher:innenzahlen am Theater steigen – Theater in NRW 03/23
Gegen Ausbeutung und Machtmissbrauch
Klassenkämpferischer Wind weht durch die Theater – Theater in NRW 02/23
Mehr Solidarität wagen
Die Theater experimentieren mit Eintrittspreisen – Theater in NRW 01/23
Zeichenhafte Reduktion
NRW-Kunstpreis an Bühnenbildner Johannes Schütz verliehen – Theater in NRW 12/22
Bessere Konditionen
EU stärkt Solo-Selbstständige im Theater – Theater in NRW 11/22
Internationale Vernetzung
Olaf Kröck verlängert Vertrag bei den Ruhrfestspielen – Theater in NRW 10/22