Wer im Ruhrtriennale-Programmheft die erste Seite aufschlägt, kann sich eine gewisse Rührung kaum versagen. Das Vorwort von Jürgen Flimm ist mit der Widmung „Für Marie“ überschrieben; ein letzter Gruß an seine designierte Nachfolgerin Marie Zimmermann, die im vergangenen Jahr noch vor Dienstantritt überraschend ihrem Leben ein Ende gesetzt hat. Und wer dann die Titel der „Kreationen“ liest wie „Vergessene Straße“, „Erbarme dich!“, „Furcht und Zittern“ oder „Die Nacht“ meint, ein Epitaph vor sich zu haben. Ganz so düster, wie es klingt, ist es dann allerdings nicht. Das Team um Zimmer-manns Dramaturgen David Tushingham hat zusammen mit der alten Triennale-Mannschaft viele Ideen von Marie Zimmermann übernommen. „Wesentliche Teile des Programms waren schon da“, sagt Tushingham. So sei klar gewesen, dass man sich nach den historischen Vergegenwärtigungen der Romantik, des Barock und des Mittelalters unter Jürgen Flimm nun wieder der Gegenwart und ihren geographischen Fluchtlinien zuwenden wollte. Das Migrantische und die Wanderungsbewegungen in Europa waren Marie Zimmermann sehr wichtig und sind noch in einem Projekt wie der Dramatisierung von Luchino Viscontis Film „Rocco und seine Brüder“ durch Ivo van Hove erkennbar. Oder auch in der Konzertreihe „Spurensuche“, die Musiker aus verschiedenen Kulturen zusammenbringt. Als großes Thema der RuhrTriennale kristallisierten sich dann in Gesprächen die allgegenwärtigen Fremdheitserfahrungen heraus. Nicht nur die von Migranten, sondern auch solche, die innerhalb der Gesellschaft gemacht werden. Tushingham erwähnt das Singspiel „Furcht und Zittern“ von Händl Klaus und Lars Wittershagen, in dem ein wegen Pädophilie Verurteilter aus seiner Wohnung auf die Straße vertrieben und zur öffentlich überwachten Person wird: „Es zeigt, wie Leute aus Gemeinschaften ausgeschlossen werden, und bildet ein Gegengewicht zu Emigrationsgeschichten wie Rocco und seine Brüder“. Eine andere Erfahrung schildert Einar Schleefs literarisches Szenario „Die Nacht“ in der Inszenierung von Anna Viebrock, in dem Erfahrungen tiefster Gefährdung und Einsamkeit mit wenig bekannter Vokalmusik Mozarts kombiniert werden. Ein Stück über die Begegnung zwischen „dem Unbekannten und dem Intimen“, wie Tushingham sagt.
Selbstverständlich ist auch dieses Jahr wieder Regisseur Johan Simons zu Gast, der „Vergessene Straße“ nach Louis Paul Boon zeigt; oder Christoph Schlingensief mit seinem Fluxus- Oratorium „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“. Auch in der Reihe mit Lesungen und Diskussionen wird mit Autoren wie Sevgine Özdamar, Christoph Ransmayr oder Ilja Tojanow die Erfahrung und der Umgang mit dem Fremden eine Rolle spielen. Das Werkportrait ist diesmal Luc Bondy gewidmet, der seine Wiener Inszenierung von „König Lear“ und „La seconde surprise de l’amour“ aus Paris mitbringt.
RuhrTriennale, 22. August bis 5. Oktober
Karten: 0700 20 02 34 56, www.ruhrtriennale.de
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