Frau Kuhn, gibt es in Deutschland ein Museum, das sich speziell mit dem Ersten Weltkrieg befasst?
Dr. Bärbel P. Kuhn: Ein Museum wie etwa in Verdun, Peronne oder Meaux in Frankreich, im belgischen Ypern oder wie das Imperial War Museum in London gibt es in Deutschland nicht. Die größte Ausstellung hierzulande ist ein umfangreicher Schwerpunkt im Bayerischen Armeemuseum in Ingolstadt. Daneben kommt das Thema natürlich auch in anderen Museen vor, aber eben nur als Teil der Dauerausstellungen.
Woran erinnert man sich in Deutschland, wenn vom Ersten Weltkrieg die Rede ist?
Die Erinnerung gilt vor allem der Westfront. Das hat sicherlich auch mit dem besonderen Verhältnis zu Frankreich zu tun. Die Versöhnung zwischen den einstigen „Erbfeinden“ fand 1984 nicht zufällig in Verdun statt, dem Ort einer der erbittertsten Schlachten. Dort liegt auch der zentrale französische Gedenkort. Nachdem lange Zeit die Schuldfrage die Erinnerung geprägt hat, wird heute vor allem an die gemeinsame Gewalt- und Leidenserfahrung erinnert, in pazifistischer Absicht nach den Leiderfahrungen durch Kriege gefragt, und der Krieg zum Anlass für Versöhnung und Verständigung genommen.
Und in anderen europäischen Ländern?
Vor allem in Westeuropa ist der „Große Krieg“ sehr präsent. Deshalb laufen dort auch die Vorbereitungen zum 100-jährigen Gedenken auf Hochtouren. Der Krieg ist fester Teil der Geschichtskultur, in fast jedem Ort gibt es Gedenktafeln, sind Angehörige im „Großen Krieg“ gefallen. Auch außerhalb Europas, etwa in Kanada, Neuseeland oder Australien, wird die Erinnerung an den Krieg als ein wichtiges Ereignis für das eigene nationale Selbstverständnis wachgehalten.
Hat hierzulande die Erinnerungskultur rund um den Zweiten Weltkrieg und die NS-Zeit den Ersten Weltkrieg verschwinden lassen?
Sie hat den Ersten Weltkrieg in der Tat überlagert. Der Zweite Weltkrieg wird jedoch in Zusammenhang mit dem Ersten gesehen, vor allem weil der Vertrag von Versailles keinen dauerhaften Frieden zu schaffen vermochte. Beim anstehenden Jubiläum hält sich die politische Seite allerdings erstaunlich zurück, während der Krieg auf medialer, wissenschaftlicher und auch populärwissenschaftlicher Ebene neu reflektiert wird.
Informationen über Schreckenstaten im 2. Weltkrieg sind weitverbreitet. Nur ein Beispiel: Oradour sur Glane ist als Tatort heute eine bekannte Gedenkstätte. Vergleichbare Massenmorde des deutschen Heeres im August 1914 sind weithin unbekannt – in dem belgischen Städtchen Arlon etwa wurden damals fast 800 Zivilisten umgebracht.
Die Erinnerung daran ist wichtig, auch weil diese Verbrechen in der Tat weithin unbekannt sind. Das Ereignis taucht sogar in der Enzyklopädie zum Ersten Weltkrieg nur am Rande auf. Immerhin gibt es in Arlon jetzt eine Gedenktafel, die in Anwesenheit des deutschen Botschafters enthüllt wurde.
„1914“ wird in der öffentlichen Debatte gerne als ein epochaler Zivilisationsbruch bezeichnet. Spiegelt sich das im Geschichtsunterricht an den Schulen?
Im Geschichtsunterricht – jedenfalls im Lehrplan von NRW – steht das Thema Erster Weltkrieg im Kontext „Imperialismus und Erster Weltkrieg“. Es ist also eher dem „langen 19. Jahrhundert“ zugeordnet und wird weniger als Zäsur gesehen, die in die Zukunft weist. Wenn es jedoch um „Merkmale“ des Krieges geht, ist natürlich auch die neue Dimension jeglicher kriegerischen Auseinandersetzung danach Gegenstand des Unterrichts.
Wie wichtig ist dabei der europäische Blick auf die europäische Geschichte?
Meines Erachtens ist es wichtig, dass die unterschiedlichen nationalen Erlebensweisen, Deutungen und Erinnerungen bekannt sind und historisch eingeordnet werden. Nur aus diesem Verständnis heraus können wir einen differenzierten europäischen Blick auf die gemeinsame Geschichte entwickeln. Man sollte nicht versuchen, die Erinnerungen zu harmonisieren. Das würde den unterschiedlichen Erfahrungen, Verletzungen und Bedürfnissen zum Gedenken nicht gerecht.
Liegt hier die Zukunft auch der deutschen Erinnerungskultur?
Die Bundesrepublik hält sich beim Gedenken an den Ersten Weltkrieg sehr zurück. Regionale Initiativen wie hier im Rheinland gibt es jedoch mehrere. Dabei wäre es eine Chance, jetzt die Bedeutung des Krieges von 1914/18 neu zu reflektieren und in die europäische Erinnerungskultur einzubringen. Der große Auftaktkongress „Mitten in Europa“ und die Ausstellungen in den Museen des LVR sind hier immerhin ein Anfang.
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