Unmittelbar vor Wahlen bricht bei den meisten Politikern oft eine reflexhafte Fehltritt-Starre aus. Um jedem Verbalausrutscher zu entgehen, zählt nur noch der argumentative Tunnelblick. Nicht so in Essen. 13 Monate vor 2010 droht dort die Kulturpolitik aus dem Ruder zu laufen. Den Auftakt bildete die fristlose Kündigung des Philharmonie-Intendanten Michael Kauf-mann, die ein Paradebeispiel misslungenen Konfliktmanagements lieferte. Zur Erinnerung: Dem vielfach belobigten Kaufmann wird vorgeworfen, über zwei Spielzeiten ein Defizit von 1,5 Mio. Euro angehäuft zu haben. Die Philharmonie konterte mit ausstehenden Sponsorengeldern, falschen Steuerberechnungen der Stadt etc. Aus dem Konflikt wurde schnell eine Schlammschlacht mit Indiskretionen, Pro-Kaufmann-Statements der Sponsoren, OB-Njet, die es mit jeder Soap locker aufnehmen konnte. Kaufmann mag Fehler gemacht haben, der Kontrollmechanismus der Stadt versagt haben – als die Pressestelle der Stadt dann sogar Briefe im Faksimile an Journalisten schickte, war der Bodensatz der Peinlichkeit erreicht.
Inzwischen herrscht Ruhe an der Kaufmann-Front, dafür steckt ein zweiter Konflikt bereits in der Warteschleife. Noch streiten der Deutsche Bühnenverein und die Deutsche Orchestervereinigung über den neuen Tarifvertrag für Orchestermusiker. Doch dass eine Tariferhöhung kommt, ist sicher. Opernchef Stefan Soltesz, der das Aalto-Theater wiederholt zum „Opernhaus des Jahres“ gemacht hat, hofft auf eine Übernahme der Gehaltssteigerung durch die Stadt und hat die Verbalmuskeln schon mal spielen lassen. Hoffen ist in dem Fall wahrscheinlich hoffnungslos. Denn die Theater und Philharmonie Essen GmbH (TuP), in der Oper, Orchester, Ballett, Schauspiel und Konzerthaus zusammengefasst sind, hat einen gedeckelten Etat und wird zudem wohl das Defizit Kaufmanns ausgleichen müssen.
Und schließlich laufen gerade die Verhandlungen um die Neubesetzung des Bochumer Schauspielhauses. Thomas Oberender, Sebastian Nübling und Stefan Bachmann sollen in der Auswahl sein. Auch mit dem Essener Schauspielchef Anselm Weber wurden Gespräche geführt, wie der kürzlich in der WAZ bekannt gab. Auch den Bochumern ist schließlich dessen fulminante Aufbauarbeit mit jungen Regisseuren von Bösch bis Vontobel und die Wirkung in die Stadt nicht verborgen geblieben. Weber gibt zu, wie sehr ihn Bochum als Theaterort reizt; er erwähnt aber auch vertraglich vereinbarte Gespräche über Etaterhöhungen mit der Essener Kulturpolitik, die nicht eingehalten wurden. Pokerspiel oder Wahrheit? Am 6. Dezember – bis dahin dürfte Klarheit herrschen - bringt Weber am Grillo-Theater Schillers „Don Carlos“ heraus. Darin sagt Marquis Posa zu König Philipp angesichts des Exodus’ aus dem protestantischen Holland: „Mit offnen Mutterarmen empfängt die Fliehenden Elisabeth, und fruchtbar blüht durch Künste unsres Landes Britannien.“ Kein gutes Omen für 2010.
Friedrich Schiller: „Don Carlos“, Grillo Theater Essen, 6. (P), 11. 20. 30. Dezember I Karten: 0201 812 22 00 I www.theater-essen.de
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