Mittwoch, 20. April: In diesem Jahr setzt das Internationale Frauenfilmfestival (IFFF), das turnusmäßig heuer in Köln ausgetragen wird, seinen Themenschwerpunkt auf das Land Mexiko. Damit ist das Festival am Puls der Zeit, denn die Jahre 2016/17 sind von den jeweiligen Regierungen zu Länderjahren von Deutschland und Mexiko ausgerufen worden, in denen sowohl wirtschaftliche als auch kulturelle Beziehungen zwischen den beiden Staaten vertieft werden sollen. Sonja Hofmann vom IFFF betonte bei der Einführung zum ersten Film der Reihe „Fokus: Mexiko“ am Mittwochabend im Filmforum, dass die meisten der acht auf dem Programm stehenden Filme auch inhaltlich topaktuell sind. „Mehrere Filme behandeln das Thema der Gewalt und des Verschwindenlassens“, so Hofmann. Zusätzlich haben die Festivalleiter mit „La mujer de nadie“ aus dem Jahr 1937 den ersten von einer Frau (Adela Sequeyro) inszenierten Spielfilm Mexikos mit ins Programm genommen. Den Auftakt machte am Mittwoch aber der 2015 von Natalia Bruschtein inszenierte „El tiempo suspendido“, der sich mit einem politisch brisanten und dennoch höchst persönlichen Thema auseinander setzt. Die Regisseurin porträtiert darin ihre eigene Großmutter Laura Bonaparte, die in den 70er Jahren eine der wichtigsten Politaktivistinnen Argentiniens war und auch die Bewegung „Madres de Plaza de Mayo“ mitbegründete.
Die Regisseurin selbst musste ihre Anwesenheit beim IFFF leider kurzfristig absagen, mit ihrer Produzentin Abril Schmucler, die selbst ebenfalls als Dokumentarfilmregisseurin tätig ist, wurde aber ein hochwertiger Ersatz für das an die Projektion anschließende Publikumsgespräch gefunden. Laura Bonapartes Familie wurde in den 70er Jahren aufgrund ihrer systemkritischen Äußerungen von der Militärdiktatur größtenteils verschleppt und ermordet. Drei ihrer vier Kinder, deren Partner und Lauras Ex-Mann sind damals ums Leben gekommen. Sie selbst konnte sich ins Exil nach Mexiko retten, wo sie jahrelang sämtliche Energien darauf verwendete, die Erinnerung an die Verstorbenen wach zu halten und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Jahre später leidet die Aktivistin an Alzheimer und steht kurz davor, alles zu vergessen, für das sie sich so leidenschaftlich einsetzte. Natalia Bruschtein ist die Tochter von Lauras Sohn Victor und dessen Frau, die zu den Opfern der Militärdiktatur gehörten. Abril Schmucler erzählte in Köln, dass die in Mexiko lebende Regisseurin ihre wieder nach Argentinien zurückgekehrte Großmutter fünf Jahre nicht mehr gesehen hatte, als ihr die Idee für den Film kam. Zufällig traf sie noch am selben Tag auf die Produzentin, und angesichts des schlechten geistigen Zustands Lauras fassten die beiden den Entschluss, so schnell wie möglich einen Film über die Großmutter zu drehen.
An drei Terminen besuchte das Filmteam Laura Bonaparte in der argentinischen Pflegeeinrichtung, wobei Bruschtein selbst am zweiten davon aufgrund ihrer Schwangerschaft gar nicht teilnehmen konnte. Obwohl die Protagonistin beim dritten Besuch kaum mehr jemanden erkannte und fast nur noch stumme Impressionen von ihr gefilmt werden konnten, genoss Bonaparte die Dreharbeiten. „Das waren für sie willkommene Abwechslungen zum einsamen Leben in der Klinik, und sie liebte es, im Zentrum der Aufmerksamkeit mehrerer Menschen zu stehen“, so Schmucler. Im Jahr 1984 war Bonaparte, wie viele Exilanten, wieder nach Argentinien zurückgekehrt, als sich das Land demokratisch geöffnet hatte. Die Uraufführung von „El tiempo suspendido“ im März 2015 auf dem Guadalajara Film Festival erlebte die Politaktivistin nicht mehr, sie war kurze Zeit zuvor gestorben. Innerhalb Bruschteins Familie sei die Idee, einen Film über Laura und ihre Demenz zu drehen, durchaus mit gemischten Gefühlen aufgenommen worden. Doch am Ende seien alle dafür gewesen, weil sie erkannten, dass Natalia das Bild ihrer Großmutter nicht entstellen oder verraten würde. Und so ist ein Film entstanden, der Laura Bonapartes Kampf gegen das Vergessen würdigt und diesen selbst vor dem Vergessen bewahrt.
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