Die Bäume des Waldes strahlen in sattem Grün und hüllen ein kleines Holzhäuschen heimelig ein. Ein Daunenkissen hängt aus dem Fenster. Idylle satt, bis zum ironischen Abwinken. Drei junge „Rekommandeurinnen“ laden freundlich in den Märchenexpress: „Wir fahren Sie mitten hinein in unseren wirtschaftswunderlichen Märchenwald. Wir fahren auch dahin wo es ganz ganz dunkel ist. Die Wirtschaftwunderzigarre qualmt schon und setzt unsere Konjunkturlokomotive unter Dampf. Abfahrt nach Marshallplan“.
„Wir zeigen, dass wir manipulieren.“
Die neue Produktion des Duos Bernadette LaHengst und Till Müller-Klug unter dem Titel „Deutschlandmärchen“, die März im Düsseldorfer Forum Freies Theater zu sehen ist, bringt Märchen der Gebrüder Grimm mit den politischen Mythen der Gegenwart zusammen. „Die Vereinigung ‚Neue soziale Marktwirtschaft’, die vom Arbeitge-berverband finanziert wurde, hat sehr erfolgreich solche Mythen unter dem Anschein der Wissenschaftlichkeit in Umlauf gebracht. Das wollen wir entzaubern“, sagt Till Müller-Klug. So lassen sich zum Beispiel in einem Märchen wie „Frau Holle“, mit der fleißigen und der faulen Tochter, zahlreiche Anknüpfungspunkte zur Leistungsgesellschaft finden.
Angela Merkels Autoscooter
Die drei Rekommandeurinnen sind Angestellte des Märchenparks Deutschland, die von ihrer Chefin drangsaliert werden. Diese Chefin ist niemand anderes als Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich mit Kommentaren, Ermahnungen bis zu „Knusper, knusper, knäuschen“-Sprüchen ins Geschehen mischt. Kennzeichen der Arbeiten von La Hengst und Müller-Klug ist der virtuose Umgang mit Originalton-Material, das sie aus diversen Quellen beziehen. Für die aktuelle Produktion hat man die rund 200 Reden genutzt, die Angela Merkel seit ihrem Amtsantritt als Podcast veröffentlicht hat. Nichts wurde dabei nachgesprochen oder imitiert.
“Wir manipulieren allerdings in diesen Texten mitunter massiv, teilweise Silbe für Silbe, Buchstabe für Buchstabe, damit so etwas wie ‚Autoscooter’ oder ‚Knusper, knusper, knäuschen’ herauskommt“, erzählt Till Müller-Klug. Manipulieren sie damit nicht letztlich genauso, wie es die Politik mit der öffentlichen Meinung tut? Till Müller-Klug verneint. „Wir machen zwar eine Art von Gegenmanipulation, verstecken aber unsere Arbeitsweise nicht, sondern zeigen, dass wir manipulieren.“ Die Tonschnitte zwischen den zusammengestoppelten Silben wurden nicht glatt gebügelt, sondern bleiben hörbar. Zugleich ergebe sich dadurch ein schöner Nebeneffekt: Merkels Sprechweise erinnert ein wenig an die etwas hölzernen Figuren in den Schaukästen der Märchenparks.
Ein Happy End gibt es am Ende zwar nicht. Aber die beiden Schwestern aus „Frau Holle“ entdecken immerhin, dass man nicht jedem Politmärchen hinterherlaufen muss. Eine wichtige Rolle spielt dabei ein ganzer Haufen Frösche – aber das ist schon wieder eine neue Geschichte.
„Deutschlandmärchen“, Text und Regie: Bernadette LaHengst Till Müller Klug I Forum Freies Theater Düsseldorf I 16.,18.,19.3. I 20 Uhr Karten: 0211 87 67 87 18 I www.forum-freies-theater.de
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